Droht der UdSSR wirtschaftlicher Niedergang?

Sachkundige amerikanische Beobachter der Sowjetszene halten eine progressive Verschärfung der Wirtschaftskrise in der UdSSR für unausbleiblich, und eine sich daraus ergebende Abwandlung der globalen Strategie des Kremls für wahrscheinlich. Dabei deuten sie auf zwei richtungsweisende Umstände hin: 1) auf die von Jahr zu Jahr fortschreitende Senkung des sowjetischen Sozialprodukts und 2) auf eine voraussehbare Energiekrise in der UdSSR. In der westlichen Presse wird gelegentlich die Vermutung ausgesprochen, die Lebensmittelsituation werde sich in der UdSSR in den achtziger Jahren derart verschlechtern, dass mit ernst lichen Unruhen in den Sowjetstädten zu rechnen sei.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es in der Sowjetunion zurzeit beträchtliche Wirtschaftschwierigkeiten gibt. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man die Sowjetpresse, die Berichte über die Erfüllung des laufenden Fünfjahrplans und die Reden von Leonid Breschnjew und anderen Sowjetführern eingehend analysiert.
Das Sozialprodukt und die Arbeitsproduktivität sind in der UdSSR in den letzten 10 Jahren erheblich gesunken. Im achten Fünfjahrplan (1966-70) betrug das Wachstum des sowjetischen Sozialprodukts acht Prozent. In den siebziger Jahren machte sich jedoch eine Verlangsamung des Wachstumstempos fühlbar. 1971-1975 wuchs das Sozialprodukt um weniger als sieben Prozent. Zu einer noch bedeutenderen Senkung des Wachstumtempos kam es bei der Erfüllung des zehnten Fünfjahrplans (1976-1980). Moskau meldete für diese Zeitspanne nur eine vierprozentige Zunahme des Sozialprodukts. Jüngsten Angaben zufolge ist das Volkseinkommen der UdSSR i.J. 1981 nur um 3,4 Prozent gestiegen. Somit lässt sich die Tendenz einer unaufhaltsamen Verlangsamung der industriellen Entwicklung der UdSSR deutlich erkennen.
Trotzdem wäre es voreilig, eine Wirtschaftskatastrophe der Sowjetunion vorauszusagen. In den letzten 20 Jahren ist es dem Kreml gelungen, die Spanne zwischen den Sozialprodukten der USA und der UdSSR zu verringern. Während zu Beginn der sechziger Jahre das sowjetische Volkseinkommen nur die Hälfte des Sozialprodukts ausmachte, beläuft sich das Sozialprodukt heute schon auf 67 Prozent. Die Sowjetunion produziert sogar mehr Stahl und fördert mehr Eisenerz und Kohle als die Vereinigten Staaten. Im Weltmasstab nimmt sie den ersten Platz in der Produktion von Zement, Traktoren, Lokomotiven u.a.m. ein.
In den letzten Jahren liess sich in der UdSSR eine gewisse Verlangsamung der Erdölförderung beobachten. CIA-Experten haben aufgrund dieser Tatsache wiederholt behauptet, dass der Sowjetunion eine Energiekrise drohe. Diesen Prognosen widersprechen jedoch Angaben der US-Zeitschrift “Oil and Gas Journal”, denen zufolge die UdSSR Ende 1980 über 8,6 Mrd. Tonnen Erdölreserven verfügte. Der gleichen Quelle zufolge können die Energiereserven (Erdöl, Erdgas und Kohle) der sowjetischen Industrie in Zukunft 120 Mrd. t Treibstoff liefern und für 80 Jahre ausreichen. Freilich befinden sich die ergiebigsten sowjetischen Erdölvorkommen in einer solchen Erd- oder Meerestiefe, dass Moskau zurzeit noch nicht über die technologischen Mittel und das erforderliche Know-how verfügt, diese Naturschätze zu Tage zu fördern.
Land Wirtschaft ist das schwächste Glied der Sowjetwirtschaft. Im vergangenen Jahr betrug die Getreideernte vermutlich nur 170 Mio. t (um 60 Mio. t weniger als die Durchschnittsernte Ende der siebziger Jahre). In den 17 Jahren des Breschnjew-Regimes war die Ernte in neun Jahren katstrophal. Der heutigen Sowjetführung ist es jedoch bisher gelungen, die Misserfolge des Kolchosensystems durch Millionen-Ankäufe von Überseegetreide auszugleichen. Um die Rechnung für das amerikanische, kanadische oder australische Getreide begleichen zu können, verkauft Moskau beträchtliche Goldmengen auf dem Weltmarkt. Allein im vergangenen Jahr sah sich Moskau genötigt, 100 t Gold zu verkaufen, um die riesigen Getreiderechnungen begleichen zu können.
Die Misserfolge der sowjetischen Landwirtschaft, und die schon jahrzehntelang disproportionelle Entwicklung der Schwer- und der Leichtindustrie, verursachen systembedingte Versorgungsschwierigkeiten (Lebensmittel und Konsumguter sind ständige Mangelwaren). Zudem sind die sowjetischen Konsumwaren von nur geringer Qualität.
Die Ursache der ungleichmässigen Ent[wicklung] liegt im Bestreben des Kremls, im Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten Schritt zu halten und sie sogar zu überflügeln. Die Erfolge des Kremls auf dem Gebiet der Rüstungsindustrie gehen aber unweigerlich auf Kosten der Sowjetbevölkerung, die schon bald 65 Jahre lang zu Opferbereitschaft ermahnt wird.
Doch ungeachtet der Misserfolge der sowjetischen Landwirtschaft und der Versorgungsschwierigkeiten ist die UdSSR imstnde — dank dem Reichtum an Naturschätzen —, die minimalen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Eine Wirtschattskatastrophe, wie sie sich heute in Polen eingestellt hat, droht der Sowjetunion vorläufig nicht. Obwohl die Sowjetbürger— nach wie vor— nach Fleisch, Butter, Eiern, Käse, Gemüse und anderen Lebensmitteln anstehen müssen, war die Regierung bislang imstande, die Preise für die wichtigsten Lebensmittel zu halten. Im Gegensatz zu Polen, ist es seit über dreissig Jahren in der UdSSR zu keinen Preissteigerungen der wesentlichsten Nahrungsmittel gekommen.
Die Sowjetexpansion in Ländern der Dritten Welt und der Krieg in Afghanistan sind natürlich für die sowjetische Staatskasse eine ernstliche Finanzbürde. Laut zuverlässigen Angaben muss Moskau für das Afghanistan-Abenteuer und für die sowjetische militärische Präsenz in Kuba, Angola, Äthiopien, sowie in Südjemen, Vietnam und anderen Entwicklungsländern, jährlich 10 Mrd. Dollar aufbringen. Pekinger offiziellen Berechnungen zufolge, belaufen sich allein die Jahreskosten der Kriegführung in Afghanistan auf zirka drei Mrd. Dollar.
Im Westen fragt man sich zuweilen, wie es der Kreml mit seiner uneffizienten, hochzentralisierten Planwirtschaft und seinem schon jahrzehntelang unproduktiven Agrarsystem fertigbringt, einer Wirtschaftkatastrophe zu entrinnen. Der Hauptgrund hierfür liegt wohl darin, dass die Sowjetunion das an Bodenschätzen reichste Land der Welt ist. Ungeachtet der abenteuerlichen Aussenpolitik und der unwirksamen Methoden in Industrie und Landwirtschaft droht der UdSSR in den achtziger Jahren daher wohl kaum ein Zusammenbruch der Wirtschaft.
Ein völlig unabschätzbarer Faktor ist jedoch der in den nächsten Jahren bevorstehende Machtwechsel im Kreml. Das grosse Sterben hat— mit dem Hinscheiden Alexej Kossygins und Michail Suslows— schon begonnen Es wird nicht allzu lange dauern, bis die Welt erfährt, wer im Kreml die Macht an sich gerissen hat, und auf welche Weise die künftigen Sowjetführer die komplizierten Wirtschaftsprobleme zu lösen gedenken.

L.K.

[Aufbau. Mar. 5, 1982. p.5]

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