Sowjetjüdische Auswanderungsprobleme

Obwohl sich die sowjetjüdische Situation standig verdüstert, da sich der staatlich geförderte, als ‘Antizionismus” verbrämte Antisemitismus in jüngster Zeit noch mehr verschärft hat und die Zahl der den Sowjetjuden gewährten Auswanderungsvisen auf ein Mindestmass beschränkt wurde (etwa 280 im Monatsdurchschnitt), lassen sich gewisse Anzeichen beobachten, die ein bescheidenes Interesse des Kremls an einem intensiveren “Judenhandel” verraten.
Allein die Tatsache, dass die Sowjets die jüdische Auswanderung nicht gänzlich gestoppt haben, zeugt davon, dass unter günstigen Bedingungen (vor allem im Fall einer Verbesserung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen) eine neue Massenauswanderung durchaus möglich ist. Seit Beginn der siebziger Jahre war es klar, dass sich der Kreml auf das Auswanderungsexperiment nur darum eingelassen hat, weil er hierdurch politische und wirtschaftliche Vorteile zu erlangen hoffte. Auch die Solidarität einflussreicher westlicher Kreise mit den Sowjetjuden war ein wesentlicher Faktor, der den Entscheidungsprozess im Kreml beeinflusste.
Zurzeit gibt es für die Sowjets keinen Ansporn, die Auswanderung zu erweitern. Die Regierung Reagan hat keine einzige nennenswerte Aktion gestartet, die den Zehntausenden auswanderungswilligen Juden zugute kommen konnte. Ungeachtet der individuellen Haltung zur Frage der Zweckmässigkeit einer amerikanisch-sowjetischen Détente, lässt sich kaum daran zweifeln, dass den Juden in der UdSSR nur im Fall einer west-ostlichen Entspannung geholfen werden kann. Erfolgreiche Verhandlungen über die Einschränkung strategischer Rüstungen, die ja am 29. Juni d.J. aufgenommen worden sind, sowie eine allgemeine Milderung des internationale Klimas könnten die Aussichten einer Intensivierung der Auswanderungsbewegung verbessern.
Gegenwärtig offenbaren sowohl die westlichen Massenmedien als auch bekannte Persönlichkeiten, des öffentlichen Lebens in Amerika, England. Frankreich und in anderen Ländern der freien Welt nur geringes Interesse für das Schicksal der mindestens 2,5 Millionen Sowjetjuden. Noch vor einigen Jahren setzten sich namhafte Wissenschaftler, Schriftsteller, Schauspieler u.a. für ihre sowjetischen Kollegen ein, denen die Auswanderung verweigert worden war. Eine anerkennenswerte Ausnahme bildet die Initiative hervorragender amerikanischer Musiker und Schauspieler zugunsten des bekannten sowjetjüdischen Pianisten Wladimir Felzman, dem die Auswanderung nach Israel schon längere Zeit verweigert wird. Im New Yorker Lincoln Center fand am 14. Juni d.J ein Konzert zu Ehren Felzmans statt. Ehrenvorsitzende des Organisationsausschusses der Veranstaltung waren solch prominente Musiker und Schauspieler wie Yehudi Menuhin, Zubin Mehta, Helen Hayes und Dudley Moore. Am Konzert nahmen der Pianist Mischa Dichter, die Schauspielerin Helen Hayes, die Ballettanzer Gelsey Kirkland, Marianna Tscherkassky u.a. teil. Man kann nur hoffen, dass diese Initiative der Musiker, Tänzer und Schauspieler ihr Ziel nicht verfehlen wird.
Von Interesse ist auch die Tatsache, dass der Frau und dem Sohn des hervorragenden Schachgrossmeisters Viktor Kortschnoi die Ausreiseerlaubnis offiziellerseits versprochen worden ist. Bella Kortschnoi teilte kurzlich westlichen Korrespondenten mit, ihr sei in der Leningrader Pass- und Visenbehörde erklärt worden, dass ihrer und Igors Auswanderung nichts mehr im Weg stehe. Igor Kortschnoi ist unlängst aus der Haft entlassen worden (er war wegen Militärdienstverweigerung zu Gefängnis verurteilt worden). Bekanntlich ersuchte Viktor Kortschnoi vor mehreren Jahren um politisches Asyl in den Niederlanden. Zweimal war im Finale der Schachweltmeisterschaft der sowjetische Grossmeister Anatoij Karpow Kortschnois Gegner. Die Sowjetpresse betrieb vor dem vorjährigen Weltmeisterschafts-Endspiel eine besonders erbitterte Hetzkampagne gegen den Nichtheimkehrer. Die Sowjetbehörden weigerten sich hartnäckig, Kortschnois Frau und Sohn emigrieren zu lassen. Wenn schon legale Auswanderer von den Sowjets als “Verräter des Heimatlands” bezeichnet werden, gilt der Nichtheimkehrer Kortschnoi als Erzfeind der Sowjetmacht. Der positive Bescheid, der Bella Kortschnoi seitens der Visenbehörde erteilt wurde, lässt sich wohl damit erklären, dass der Internationale Schach verband (und insbesondere dessen Vorsitzender, Grossmeister Olafson) massiven Druck auf die Sowjets ausgeübt haben. Falls es zu einer Familienzusammenführung der Kortschnois kommt, ist es ein erneuter Beweis für die Bedeutung der moralisch-politischen Unterstützung sowjetischer “Refuseniks” durch die Weltöffentlichkeit.
Am 10. Mai d.J. hielten die Repräsentanten einer Gruppe sogenannter “getrennter Familien” in Moskau — in Anwesenheit westlicher Korrespondenten — eine Pressekonferenz ab. Es handelt sich um sowjetische Bürger, deren Eheleute Ausländer sind. Diesen sowjetischen Frauen und Männern wird die Ausreise und Familienzusammenführung schon jahrelang verweigert. Der Pressekonferenz konnten Tatjana Losansky und I. Kiblitzky nicht beiwohnen, da sie unter Hausarrest standen.
Tatjana Losanskys Fall ist von besonderem Interesse. Tatjana ist Russin, ist aber mit dem jüdischen Physiker Eduard Losansksy verheiratet. Tatjanas Vater ist General Jerschow. Ihm obliegt nicht mehr und nicht weniger als der Luftschutz der sowjetischen Hauptstadt. Der General weigerte sich kategorisch, seiner Tochter die in der UdSSR obligatorische Ausreisebewilligung der Eltern zu erteilen. General Jerschow schlug seinem Schwiegersohn vor, sich von Tatjana scheiden zu lassen. Man würde ihn dann auswandern lassen. In der Moskauer Pass- und Visenbehörde wurde Eduard Losansky versprochen, dass Tatjana und ihre 11jährige Tochter früher oder später die Möglichkeit haben würden, sich ihm im Ausland anzuschliessen.
Da aber der General, der um seine Berufskarriere besorgt war, gegen die Ausreise seiner Tochter Einspruch erhob, wurden sämtliche Gesuche der jungen Frau abschlägig beantwortet. Tatjana Losansky und mehrere andere durch die Staatswillkür getrennte Ehegatten traten in Hungerstreik. Am 32. Tag des Hungerstreiks erklärte General Jerschow, dass er seinen Einspruch gegen Tatjanas Ausreise widerrufen und die Visenbehörde von seinem Entschluss in Kenntnis gesetzt habe. Im Fall Tatjana Losansky ist es durchaus möglich, dass nicht nur die Befürchtungen des Generals um das Leben der Tochter, sondern auch der Wunsch des sowjetischen Sicherheitsdienstes, einen todlichen Ausgang zu vermeiden, von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Die Moskauer Pass- und Visenbehörde hat Tatjana schon offiziell benachrichtigt, dass ihr und ihrer Tochter Ausreisevisen gewährt werden würden. Hoffentlich kommt es bald zu einer Familienzusammenführung in Rochester (New York), wo Eduard Losansky an der Universität tätig ist.
In diesem Zusammenhang ist auch folgender Vorfall von Interesse. Aus Moskau wird gemeldet, dass die Polizei am 8. Mai d.J. in der Wohnung von Matwej Finkel erschien. Finkels gesetzliche Gattin, die amerikanische Bürgerin Susan Graham, weilte gerade zu Besuch. Die Polizisten forderten, dass Susan Graham im Lauf von zehn Minuten die nötigen Vorbereitungen treffe, die UdSSR zu verlassen. Mrs. Graham wurde von der Polizei zum Flughafen befördert, wo sie fast unverzuglich nach Frankfurt a/M. abtransportiert wurde. Auch der Fall Finkel ist symptomatisch. Der sowjetische Sicherheitsdienst wusste genau, dass Matwej Finkel und seine amerikanische Frau keine einflussreichen Fürsprecher haben.
Die Welt schweigt angesichts dieser Verletzungen elementarer Menschenrechte. Gerade deshalb konnte die für das Jahresende anberaumte Weltkonferenz für das Auswanderungsrecht der Sowjetjuden (die sogenannte “dritte Brüsseler Konferenz”) von grosser Bedeutung sein. Nicht weniger wichtig ist es aber, die Regierung Reagan von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich aktiv für Tausende Refuseniks und andere auswanderungswillige Sowjetjuden einzusetzen. Nur die grossen amerikanisch-jüdischen Organisationen, deren Interessen das Weisse Haus meist berücksichtigt, konnten hierbei Erfolg haben.

L.K.

[Aufbau Aug. 6, 1982. p.13]

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