Anatolij Schtscharansky in Lebensgefahr

Das Leben des sowjetjüdischen “Gewissenshäftlings” Anatolij Schtscharansky steht auf dem Spiel. Am Vorabend des Yom Kippurs, am 26. September, trat Schtscharansky in einen bis auf den heutigen Tag anhaltenden Hungerstreik. Er sah sich zu diesem verzweifelten Schritt genötigt, um auf diesem letzten, ihm noch zugängigen Weg gegen die Willkür der Gefängnisleitung zu protestieren. Schon seit längerer Zeit befindet sich Schtscharansky in Einzelhaft im berüchtigten, wegen der grausamen Behandlung politischer Häftlinge bekannten Tschistopol-Gefängnis (in der Tatarischen Autonomen Sowjetrepublik). Um Schtscharanskys innere Kraft zu brechen, haben die sowjetischen Sicherheitsbehörden in den vergangenen acht Monaten seine Korrespondenz gesperrt und jegliche Verwandtenbesuche gestoppt.
Bekanntlich wurde Anatolij Schtscharansky, Mitglied des inoffiziellen Moskauer Helsinki-Komitees, am 10. Juli 1978 wegen “Hochverrats” zu einer dreizehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dem Kreml war der Fall Schtscharansky ein willkommener Anlass, ein Exempel zu statuieren, zumal Schtscharansky einer der aktivsten Vorkämpfer für das jüdische Auswanderungsrecht war. Gleichzeitig setzte er sich durch seine Mitgliedschaft in der Moskauer Helsinki-Gruppe für die Wahrung der elementarsten Menschenrechte in der UdSSR ein. Damit wurde er, dessen einziger Wunsch die Auswanderung nach Israel war, in die Weltpolitik gezerrt. Der Prozess gegen den damals 30jährigen Computer-Ingenieur gestaltete sich zu einer Zerreissprobe für Moskaus Beziehungen zu Washington. Der Kreml wollte Präsident Carter deutlich machen, dass seine Menschenrechtskampagne — auf die UdSSR angewandt — die Situation nur verschlimmern könne.
Im Juni 1977 erklärte Carter auf einer Pressekonferenz, Anatolij Schtscharansky sei zu keiner Zeit für die CIA tätig gewesen. Obwohl die Sowjet Propaganda — nach Carters Erklärung — ihren Ton dämpfte, liess Moskau die Anklage auf Hochverrat nicht fallen. Der Moskauer Korrespondent der “Los Angeles Times”, Robert Toth, wurde — wenige Tage vor seiner Ausweisung aus der Sowjetunion — von KGB-Leuten festgenommen und unter psychologischen Druck gesetzt. Schliesslich unterzeichnete Toth mehrere Protokolle, obwohl er (wegen seiner lückenhaften russischen Sprachkenntnisse) den Inhalt der Dokumente kaum verstand. Schtscharansky hatte mit mehreren westlichen Korrespondenten (darunter auch mit Robert Toth) in Verbindung gestanden. In der Folge gelang es dann dem KGB, den amerikanischen Journalisten in ein Aussagennetz zu verstricken und Schtscharansky daraus einen Strick zu drehen. Die Toth-Protokolle dienten während des Prozesses als Belastungsmaterial.
Der Kreml liess sich trotz der Flut von Protestschreiben prominenter westlicher Gelehrter, Politiker und anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nicht davon abbringen, Schtscharansky zu einem Testfall amerikanisch-sowietischer Beziehungen zu machen. Er wurde nicht nur zu 13 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, sondern man verweigerte ihm auch die elementarsten, Häftlingen normalerweise gewährten Erleichterungen (Postempfang, Besucher etc.). Doch während Carters offenes Eintreten für Menschenrechte neben manchen Debakeln auch unbestreitbare Erfolge verzeichnen konnte (1979 durften über 50.000 Sowjetjuden aus der UdSSR auswandern), hat Reagans Bemühen, auf dem Wege “stiller Diplomatie” den Opfern totalitärer Regime wirksame Hilfe zu erweisen, keinerlei greifbare Resultate gezeitigt.
Avital Schtscharansky, Anatolijs Gattin, hat die vergangenen acht Jahre ihre ganze Kraft und Energie für die Rettung ihres Mannes eingesetzt. Führende Staatsmänner der westlichen Welt haben Avital, die ihren Wohnsitz in Israel hat, empfangen und moralisch unterstützt. Im Juni 1981 wurde sie von Präsident Reagan und Vizepräsident Bush im Weissen Haus empfangen. In einem Presseinterview sagte sie: “Präsident Reagan zeigte während unserer Begegnung seine tiefe Besorgnis um Anatolijs sich ständig verschlechternden Gesundheitszustand. Er versprach, sein Möglichstes zu tun, um seine Freilassung zu erwirken. Inzwischen ist seit meinem Empfang im Weissen Haus mehr als ein Jahr verstrichen.”
Schtscharanskys Gesundheitszustand ist besorgniserregend. Er hat periodisch wiederkehrende Migräne- und Schwindelanfälle sowie Symptome einer schweren Darmerkrankung. Es ist jetzt anzunehmen, dass die Gefängnisleitung in seinem Fall zu einer “Zwangsernährungskur” greifen wird. Wie aus Berichten ehemaliger Gulag-Häftlinge hervorgeht, wird bei dieser Prozedur brutalste Gewalt angewandt. Falls der Häftling Widerstand leistet, werden ihm oft die Zähne eingeschlagen. Es kann auch zu schweren Verletzungen der Zunge und des Gaumens kommen.
Als Ida Milgrom, Anatolijs 78-jährige Mutter (in Begleitung ihres älteren Sohnes Leonid) Schtscharansky im Januar 1982 besuchen durfte, war sie über seinen physischen Zustand aufs tiefste beunruhigt. “Er sah fast wie ein Skelett aus. Jetzt werden sie meinem Sohn den Todesstoss versetzen,” sagte sie in einem kurzen Telefongespräch mit westlichen Freunden.
Lynn Singer, Direktor des Long Island Committee for Soviet Jewry, hat sich unlängst zwei Wochen in Moskau aufgehalten. Danach sagte sie: “Trotz ihres Alters zeigt Ida Milgrom bewundernswerte Energie. Sie hofft auf ein Wunder. Solange sie am Leben ist, wird sie um die Freilassung ihres Sohnes kämpfen.”

L.K.

[Aufbau Nov. 5, 1982. p.7]

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