Jewgenij Jewtuschenkos Engagement für jüdische Belange

Jewgenij Jewtuschenko, der vor kurzem im Rahmen einer Konzerttournee die USA besuchte, gehört zu den bekanntesten Lyrikern der Gegenwart. Seine Gedichtbände erscheinen in der UdSSR in Riesenauflagen. Die meisten seiner Werke wurden in fast alle europäischen Sprachen übertragen. Er ist nicht nur Dichter, sondern auch Volkstribun. Seinen Namen kennt man in Ost und West.
Der 52jährige Lyriker stammt aus Sibirien. Sein Geburtsort ist die Siedlung Sima. 1952 wurde in Moskau der erste Gedichtband des damals Neunzehnjährigen veröffentlicht. Das 1956 erschienene Poem Stanzija Sima (in englischer Übersetzung Zima Junction) ist Jewtuschenkos Kindheit in Sibirien gewidmet. Doch den eigentlichen Kern dieses Werks bilden Jewtuschenkos Gedankengänge anlasslich des Todes von Josef Stalin. In dichterischer Form setzte sich der Verfasser mit Problemen der sowjetischen Gesellschaft, die ihn zutiefst erschütterten, auseinander.
Jewtuschenko wurde in der Sowjetpresse wiederholt schart kritisiert. Das Gedicht Die Erben Stalins, das vor der Gefahr eines Russland drohenden Neostalimsmus warnte, rief den Unwillen der Sowjetpresse hervor. Dem Autor wurden damals politische Unreife und Mangel an Sowjetpatriotismus vorgeworfen.
Tribut den Holocaust-Opfern
Jewtuschenko liess sich jedoch nicht einschüchtern. 1961 erschien sein berühmtes und in alle Weltsprachen übertragene Poem Babi Jar. Jewtuschenko ist der einzige lebende Sowjetschriftsteller, der in seinem Werk über den Holocaust (Babi Jar ist eine Stätte in der Nähe von Kiew, wo die Nazis und ihre ukrainischen Helfershelfer Ende 1941 100.000 Juden erschossen) spricht.
In seiner 1963 erschienenen Autobiographie schildert Jewtuschenko die enormen Schwierigkeiten, die der Veröffentlichung seines Poems im Weg standen. In der Sowjetunion wird der Holocaust im wahren Sinn des Wortes totgeschwiegen. Die offizielle Kreml-Propaganda spricht von der Ermordung von Millionen von “Sowjetbürgern” durch die Nazis. Das Wort “Jude” wird hierbei geflissentlich vermieden. Babi Jar schildert nicht nur die Greuel der Judenmorde, sondern ist auch ein Appell an alle Menschen guten Willens, den Antisemitismus zu verdammen.
Hilfsaktion für Ida Nudel
Auch heute wendet sich Jewtuschenko gegen Antisemitismus und Rassenhetze. Laut Meldungen amerikanisch-jüdischer Organisationen lichtete unlängst die Filmschauspielerin Jane Fonda die Bitte an Jewtuschenko, er möge sich für Ida Nudel, der seit mehr als zehn Jahren das Ausreisevisum verweigert wird, einsetzen. Jewtuschenko versprach, alles in seiner Kraft Stehende zu tun. Der Dichter begab sich zum Vorsitzenden des Moskauer OVIR (der sowjetischen Pass- und Visenbehörde) und bat ihn darum, Ida Nudel endlich die Auswanderung zu gewähren. Der OVIR-Chef setzte sich vermutlich mit dem KGB und dem Zentralkomitee der Partei in Verbindung (Jane Fonda ist in der UdSSR als Gegnerin des VietnamKriegs durchaus geachtet). Doch weder Jane Fondas noch Jewtuschenkos Fürsprache war Erfolg beschieden. Der OVIR-Chef lehnte Jewtuschenkos Ersuchen ab.
Jewgenij Jewtuschenko ist für die Sowjetjugend ein wahrer Star. Wenn er in Riesenhallen seine Gedichte vorträgt, jubeln ihm Tausende von Jugendlichen zu (Jewtuschenkos Popularität ist der eines amerikanischen Rock-Stars vergleichbar).
Nur dieser Beliebtheit verdankt er es, dass er 1968 nicht verhaftet wurde. Kurz nach der Invasion der Tschechoslowakei im August 1968 schrieb der mutige Sowjetdichter ein Protestgedicht (Panzer rollen durch Prag) und sandte es schliesslich an Leonid Breschnjew. Moskauer Intellektuelle kennen diese Verse ihres Lieblingsdichtcrs auswendig. Für diese Tat benötigte Jewtuschenko nicht weniger Zivilcourage als die kleine Schar von Moskauern, die sich damals mit Protestplakaten auf den Roten Platz begaben, verhaftet und zu längeren Freiheitsstrafen wrurteilt wurden.
Kritik aus New York
Ein Rezensent der New York Times hat Jewtuschenko Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Im Westen deklamiere er angeblich den Originaltext seines Poems Babi Jar, in der UdSSR hingegen handle es sich um eine andere Version des Werks, wo von umgebrachten “Juden, Russen und Ukrainern” die Rede ist.
In einem an die Times gerichteten Brief hat Jewtuschenko gegen diesen Vorwurf Protest erhoben. Für ihn gebe es nur eine Originalversion. Die andere Fassung, wo “Juden, Russen, Ukrainer” figurieren, sei auf Bitte des Komponisten Dmitrij Schostakowitsch entstanden.
Jewtuschenko konnte natürlich nicht während seines US-Aufenthalts den eigentlichen Grund angeben, warum ihn Schostakowitsch um Änderung der betreffenden Stelle ersucht hatte. Dem Text der Chorgesänge in Schostakowitschs berühmter 13. Symphonie liegt Jewtuschenkos Poem Babi Jar zugrunde. Das sowjetische Kulturministerium weigerte sich kategorisch, Schostakowitschs Symphonie aufführen zu lassen, falls die Juden als einzige Opfer des Holocausts bezeichnet würden. Um die Aufführung der Symphonie zu ermöglichen, fügte Jewtuschenko seinem Originaltext die von der Zensur geforderten Worte hinzu.
Im Gegensatz zur westeuropäischen Presse werfen US-Kritiker (und insbesondere die russischsprachige Emigrantenpresse) dem Dichter vor, er sei ein Sprachrohr des Kremls. Dabei wird geltend gemacht, Jewtuschenko habe als Dichter gegen den Vietnamkrieg protestiert, aber ignoriere jetzt Afghanistan und die Situation in Polen. Solche politischen Forderungen sind aber völlig unrealistisch. Die Folgen einer derartigen literarisch-politischen Stellungnahme sind leicht abzusehen — Ausbürgerung und Emigration des Verfassers. Gerade das aber sucht Jewtuschenko zu vermeiden. Er will seine Heimat nicht verlassen (obwohl seine Frau Engländerin ist und in Grossbritannien lebt) und seine Rolle als Mittler zwischen Ost und West nicht aufgeben.

L.K.

[Aufbau Jul. 19, 1985. p.13]

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