Reformen in der Sowjetunion lassen weiterhin auf sich warten

Gorbatschow weicht von der Dezentralisierung der Wirtschaft nicht ab

In den vergangenen 20 Jahren erreichten in der UdSSR Korruption, Trunksucht und “Untergrund-Wirtschaft” (sog. linke Arbeit) nie dagewesene Ausmasse. Das sowjetische Sozialprodukt ist in den letzten zehn Jahren katastrophal gesunken. Während das Wachstum Anfang der siebziger Jahre fast acht Prozent betrug, erreicht es heute nur gegen 2,5 Prozent.
Korruption und “linke Arbeit” (d.h. jegliche Erwerbstätigkeit, die unter Umgehung staatlicher Gesetze vollzogen wird) sind aufs engste mit der totalen Zentralisierung der Wirtschaftsplanung und dem Mangel an Privatinitiative auf wirtschaftlichem Gebiet verbunden.
Als Jurij Andropow nach Breschnjews Tod (November 1982) zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde, glaubten sowohl Sowjetintellektuelle als auch westliche Russland-Beobachter, der neue Sowjetführer würde sich nicht damit begnügen, Korruption, Trunksucht und Undiszipliniertheit zu bekämpfen. Der Kampf gegen diese Übel kann wohl zu geringfügigen vorübergehenden Erfolgen führen, ist jedoch ohne Durchführung einer effektiven Wirtschaftsreform nicht imstande, einen wahren Umbruch zu bewirken. Obwohl Andropows erste Schritte auf die Bekämpfung der Korruption und den Alkoholismus am Arbeitsplatz gerichtet waren, liess er es nicht dabei bewenden. Ende Juli 1983 konnte man sich im Inund Ausland davon überzeugen, dass Andropow die Wurzeln des Übels klar erkannt hatte. Partei und Regierung verkündeten am 26. Juli 1983 eine Reihe von experimentellen Massnahmen, die auf eine Lockerung der zentralen Planung im Industriebereich abzielten.
Kurz zuvor hatte es in einer Veröffentlichung der Nowosibirsker Zweigstelle der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion geheissen, dass die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse der UdSSR nicht im Einklang ständen. Ohne Sanktionierung des Politbüros wäre eine solche akademische Eigeninitiative unmöglich gewesen.
Michail Gorbatschow war Andropows “Kronprinz”. Heute ist Gorbatschow der unumstrittene Sowjetführer. Er konnte seine Machtposition erheblich ausbauen und festigen. Es gelang ihm, Georgij Romanow, seinen Hauptgegner im Politbüro, kaltzustellen (Romanow wurde in den Ruhestand versetzt). Ende Dezember 1985 wurde auch der Moskauer Parteichef Viktor Grischin seines Amtes enthoben. Andrei Gromyko, der erfahrenste Sowjetdiplomat, wurde— auf Gorbatschows Initiative— zum Staatspräsidenten befördert und somit im aussenpolitischen Entscheidungsprozess faktisch neutralisiert.
Zum zweitmächtigsten Mann in der Kreml-Hierarchie rückte Jegor Ligatschow, ein ehemaliger Andropow-Günstling, auf. Ein weiterer Favorit Andropows, der Wirtschaftsexperte Nikolai Ryshkow, wurde zum Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR ernannt.
Gorbatschow brachte es fertig, etwa ein Drittel der Repräsentanten der höchsten Sowjetelite, der sog. Nomenklamtur (auf dem Gebiet der Parteileitung, des Regierungsapparats und der Militärführung), ihrer Ämter zu entheben (meist wurden die betreffenden Apparatschiks in den Ruhestand versetzt). Ihren Platz nehmen nun Gorbatschow-Getreue ein.
Man könnte meinen, dass eine solch grandiose Säuberungsaktion das Vorspiel einer Wirtschaftsreform sei. Doch die realen Tatsachen sprechen dagegen. Gorbatschows Säuberungsaktion erfolgte unter dem Motto eines erbitterten Kampfes gegen Korruption und Inkompetenz. Während Gorbatschow noch im Frühjahr 1985 von der Notwendigkeit sprach, den sowjetischen Betriebsleitern grössere Autonomie zu gewähren, akzentuiert er in seinen jüngsten Reden die Forderung nach strengster Arbeitsdisziplin. Grössere Autonomie für die Arbeitsbetriebe wird hingegen weniger betont.
Das auf Grobatschows Initiative erarbeitete neue Programm der KPdSU, das dem für Februar anberaumten 27. Parteikongress vorgelegt werden soll, weicht nur in Einzelheiten von dem bisher bestehenden Pro- gramm ab.
Ligatschow der auf dem Gebiet der Ideologie und Wirtschaft— neben Gorbatschow— im Kreml das entscheidende Wort spricht, hat unlängst einen Artikel im Parteiorgan Kommunist veröffentlicht, in dem er höchst konservative, reformfeindliche Ansichten vertritt. Ligatschows Aufsatz deutet wohl darauf hin, dass es auf dem 27. Parteikongress zu keinerlei besonderen Überraschungen kommen wird.
Die Repressalien gegen Andersdenkende (jüdische und deutsche Auswanderungswillige, religiöse oder politische Dissidenten u.a.) haben sich unter Gorbatschow noch verschärft.
Am 10. Dezember 1985, dem internationalen Menschenrechtstag, hatte sich eine Handvoll Bürgerrechtler vor dem Puschkin-Denkmal im Moskauer Stadtzentrum versammelt, um schweigend das Haupt zu entblössen (ein symbolischer Akt des passiven Widerstands gegen die Verletzung der Menschenrechte). Doch zahlreiche Polizisten schlugen die kleine Schar der Andersdenkenden brutal zu Boden. Die Demonstranten wurden verhaftet.
Gorbatschow steht heute vor der notorischen Alternative, entweder eine vorsichtige, jedoch konsequente Reformpolitik einzuleiten oder das Risiko einer weiteren Verminderung des Sozialprodukts auf sich zu nehmen. Drohungen und Gewaltmassnahmen sind nicht dazu angetan, die Wirtschaft anzukurbeln. Public-Relations-Tricks können das Gesamtbild nicht ändern.
Karl Marx’ Ausspruch zufolge wird der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus letzen Endes durch quantitative und qualitative Produktionsfaktoren entschieden. Eine globale Präsenz bei ständig sinkenden Leistungen der Sowjet Wirtschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dieser Grossmacht um einen Koloss auf tönernen Füssen handelt.
Furcht vor Neuerungen im Wirtschafts- und Kulturleben sowie Angst vor jeglicher Eigeninitiative der Sowjetbürger könnten zu Gorbatschows Achillesferse werden. Im High-Tech-Zeitalter muss zwangsläufig ein solcher reformfeindlicher Konservatismus die Zukunftsperspektiven des Landes beeinträchtigen.

L.K.

[Aufbau Jan. 17, 1986. p.8]

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