Polnische Militärdiktatur: Zukunftsmodell für die UdSSR?

Die dramatischen Ereignisse in Polen, die im Dezember zur blutigen Unterdrückung der zehn Millionen Mitglieder zählenden “Solidaritäts”-Bewegung durch die Militärdiktatur General Jaruzelskis führten, sind für den Russlandbeobachter von immenser Bedeutung. Gegenwärtig handelt es sich nicht nur um die Klärung der Frage, ob General Jaruzelskis brutales Vorgehen vom Kreml inspiriert war, oder ob sich der polnische General zur Ausrufung des Kriegszustands genötigt sah, um eine Invasion seiner Heimat durch die Sowjetarmee zu verhindern. Obwohl sich zahlreiche westeuropäische und amerikanische Journalisten über die Beweggründe der Aktion Jaruzelskis den Kopf zerbrechen, sind die der Schaffung einer Militärdiktatur zugrunde liegenden Motive in historischer Sicht kaum von Belang. Jaruzelski entschied sich zu seiner gegen die “Solidarität” gerichteten Aktion, weil er sowohl unter dem Druck des Kremls stand als auch auf diese Weise eine Intervention Moskaus zu vermeiden suchte. Die Verhängung des Kriegszustands war den KremlGreisen durchaus genehm. Sie konnten erleichtert aufatmen. Sie waren keineswegs an einem Blutvergiessen im Herzen Europas interessiert. Wenn es dazu gekommen wäre, hätte Moskau der Friedensbewegung in Westeuropa den Wind aus den Segeln genommen. Eine sowjetische Militärintervention in Polen hätte die Hoffnung des Kremls, eine Spaltung des Nordatlantischen Bündnisses zu erreichen, endgültig zum Scheitern gebracht
Die Ereignisse in Polen reichen weit über die Grenzen dieses osteuropäischen Landes hinaus. Eine Analyse der Geschehnisse lässt sich nicht nur durch die Betrachtung der Handlungsmotive des ersten Junta-Generals im Ostblock einschränken. Die politische Entwicklung in Polen 1980-1981 bietet dem Kremlbeobachter die einmalige Gelegenheit, eventuelle künftige Ereignisse in der Sowjetunion selbst zu prognostizieren.
Bekanntlich war die Schaffung der polnischen Militärjunta durch die Unfähigkeit einer völlig korrumpierten Partei bedingt, die schon nicht mehr imstande war, die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Die Korrumpiertheit und die Inkompetenz der kommunistischen Partei Polens war der eigentliche Grund für die rapide Entwicklung der “Solidaritäts”Bewegung (vom August bis zum Dezember 1980 stieg die Zahl der Mitglieder der freien Gewerkschaftsbewegung auf zehn Millionen).
Durch die Drosselung der elementaren Bürgerrechte und des Dialogs mit der polnischen Arbeiterklasse kann Jaruzelski eine Sanierung der Wirtschaft und eine sozialpolitische Erneuerung nicht zustandebringen.
Die innere Schwäche des Militärregimes Jaruzelskis offenbarte sich nicht zuletzt in widerwärtiger antisemitischer Propaganda. Die polnischen Sicherheitsbehörden geben sich grösste Mühe, die “Solidaritäts”-Bewegung in den Augen der Bevölkerung durch angebliche Kontakte mit in- und ausländischen jüdischen Zentren zu verunglimpfen (in Polen leben heute nur noch etwa 6000 Juden). Das polnische Parteiorgan “Trybuna Ludu” griff unlängst zwei prominente “Solidaritäts”-Berater an — Adam Michnik und Bronislaw Geremek (beide jüdischer Abstammung). Das Blatt warf diesen beiden polnisch-jüdischen Aktivisten Sympathien auf den Zionismus vor. Aus Warschau wird auch gemeldet, dass Mark Edelman, einer der wenigen noch lebenden Führer des Warschauer Getto-Aufstands, sich unter den Tausenden der Verhafteten befindet.
Das Pariser Büro des American Jewish Committee (AJC) brachte in Erfahrung, dass — seit Erklärung des Kriegszustands — in verschiedenen Städten Polens antisemitische Hetzblätter an die Mauern geklebt wurden. In diesen Pogromblättern wird der Versuch unternommen, die “Solidarität” als ein Ergebnis der “Ränke des Weltjudentums” und des “internationalen Zionismus” darzustellen. Von grösster Bedeutung ist hierbei die Tatsache, dass diese gemeinen antisemitischen Attacken bei der polnischen Bevölkerung keine Anklang finden. Nives Fox, Europa-Vertreter des AJC, meldet, dass die Polen die antisemitischen Hetzblätter umgehend entfernen.
Die an der Macht stehenden Männer um Jaruzelski beschuldigen in ihrer antisemitischen Hetzkampagne die polnischen Juden, die Mangelwaren in grossen Mengen aufzukaufen, um sie spater auf dem Schwarzen Markt an den Mann zu bringen. Diese von Beratern des KGB (des sowjetischen Sicherheitsdienstes) dem polnischen Militärregime anempfohlenen “Tricks” lassen sich aus Hetzblättern ersehen, die die österreichische Hauptstadt erreicht haben (die letzten polnischen Flüchtlinge, die mit dem Chopin-Express nach Wien kamen, brachten dieses Propagandamaterial mit).
Die heutigen Machthaber Polens wiederholen die von Josef Stalin Ende der vierziger Jahre erarbeitete antisemitische Taktik. In den Angriffen der polnischen Presse heisst es, dass Geranek, ein führender Berater des “Solidaritäts”-Führers Lech Walesa. ein “kosmopolitischer zionistischer Revisionist” sei. Diese Formulierung wird in zahlreichen Flugblättern wiederholt. Stalins berüchtigte “kosmopolitische Kampagne” der vierziger Jahre stellte die Sowjetjuden als “vaterlandslose Gesellen”, als “Kosmopoliten” dar. Der Stalinsche Antisemitismus war ein deutliches Symptom der Entartung des Kommunismus sowjetischer Spielart.
Wenn heute Jaruzelski und die Falken der Parteiführung (Olszowski & Co) zur antisemitischen Terminologie Stalins greifen, ist dies ein Beweis für die Ohnmacht der Militärjunta.
Heute, da Leonid Breschnjew und dessen Kollegen vom Politbüro im Entscheidungsprozess des Kremls von ausschlaggebender Bedeutung sind, lassen sich die schlimmsten Auswüchse des Antisemitismus in der UdSSR vermeiden. Der staatliche Antisemitismus in der Sowjetunion ist ein unbestreitbares Phänomen, doch die Partei ist vorläufig daran interessiert, die bösartigsten Judenhetzer unter Kontrolle zu halten. Hierbei lassen sie sich keineswegs von Humanitätsidealen leiten. Sie befürchten, durch jedweden Extremismus ihre eigene Position zu schwächen.
Die Lage konnte sich jedoch nach dem Tod von Breschnjew, Kirilenko, Tichonow und den anderen bejahrten Politbüro-Mitgliedern ändern. Ende der achtziger Jahre wäre eine sowjetische Militärdiktatur durchaus im Bereich des Möglichen. Die Errichtung einer Militärdiktatur in Osteuropa (einschliesslich der Sowjetunion) hängt vom Eintreten folgender Momente ab:
1) eines maximalen Ausmasses der Korrumpiertheit der Parteispitze (Gier und Habsucht der sogen. “Nomenklatur”-Funktionäre, d.h. der Elite der “neuen Gesellschaft”; 2) der fast totalen Unfähigkeit der sog. Spitzenfunktionäre der Partei, die Wirtschaft des Landes zu leiten und die elementaren Bedürfnisse der Verbraucher zu erfüllen; 3) eines katastrophal gesunkenen Sozialprodukts des Landes.
Bei objektiver Betrachtung der in der UdSSR wirkenden Kräfte lassen sich sämtliche genannten Tendenzen verzeichnen. In seinen alljährlichen Rechenschaftsberichten gibt Parteichef Breschnjew offen zu, dass die Wirtschaftsentwicklung der UdSSR viel zu wünschen lässt. Selbstverständlich wird über die Korrumpiertheit der Sowjetelite und deren Unfähigkeit, die Wirtschaft zu leiten, nicht offen gesprochen. Darüber wird nur gewitzelt und gemunkelt, die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung weiss aber genau, wie es um die “Obrigkeit” bestellt ist.
Die ständig wachsende Leistungsunfähigkeit der Spitzenfunktionäre der Partei, die sich z.B. schon jahrelang in Polen offenbarte, sowie die moralisch-politische Entartung der Führung der Ostblocklander fördern die Entstehung antagonistischer Kräfte (wie z.B. die polnische “Solidaritäts”-Bewegung).
Im Westen wird oft die Meinung vertreten, dass das russische Volk zu keinerlei Massenprotesten fähig sei. Der heute in Paris lebende russische Exilschriftsteller Andrej Sinjawsky hat vor einiger Zeit in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitung “Die Zeit” erklärt, die Russen seien in politischer Hinsicht “Sklaven”. Zu den gleichen Schlüssen kamen Korrespondenten amerikanischer Blätter, die mehrere Jahre in der UdSSR verbrachten. Bei derartigen Überlegungen wird aber ein wichtiges Element völlig übersehen. Sobald die neue Sowjetgeneration, die nach 1953 das Licht der Welt erblickte und demnach den Stalinismus nicht kannte, das Alter von 35-40 Jahren erreichen wird, könnte sich die Situation wesentlich andern. Diese neue Generation kennt nicht die Furcht der Väter und Grossväter, der “Errichter des Sozialismus”. Sie ist in politischer Hinsicht bedeutend unabhängiger als ihre Vorväter. Heute stehen die jungen Leute der Ära nach Stalin im Alter von 20-28 Jahren. Während ihre Eltern und Grosseltern an das kommunistische Ideal noch glaubten, sind die Jungen (besonders in den Grosstädten) konsumorientiert und zuweilen sogar zynisch. Ihre Eltern und Grosseltern waren bereit, für ein Zukunftsideal zu darben und permanente Not zu leiden. Die heute Zwanzigjährigen lassen sich nicht mehr hinters Licht führen. Sie wissen genau Bescheid über die in der UdSSR herrschenden Klassenunterschiede (auch wenn sie Djilas’ “Neue Klasse” nicht zu Gesicht bekommen haben) und sind bei weitem nicht so opferbereit, wie es die beiden ersten Generationen nach der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 waren.
Bei gleichzeitiger Degenerierung und Korrumpierung der sowjetischen Parteispitze einerseits und Reifung der heute Zwanzigjährigen andererseits könnten die Voraussetzungen einer sowjetischen Militärdiktatur (Ende der achtziger Jahre) eintreten. Das polnische Modell könnte dann Schule machen.
Im Gegensatz zu Breschnjew und dessen Parteikollegen wurde die sowjetische Generalität, falls sie die Macht ergreifen sollte, den Weltfrieden ernstlich gefährden. Welche praktischen Schlussfolgerungen lassen sich aus solchen Betrachtungen für den Westen ziehen?
Es ist grundfalsch, davon auszugehen, dass im Kreml “felsenfeste Einheit” und “eherne Geschlossenheit” herrschen. Fast stets gab es im Kreml Machtkämpfe.
Es liegt im Interesse der westlichen Demokratien, die gemässigten Elemente im sowjetischen Zentralkomitee und im Politbüro zu stärken (nur ein sturer Dogmatiker der Neuen Rechten wird behaupten, dass es in der Sowjethierarchie überhaupt keine Unterschiede gibt). Durch geschickte Propaganda und flexible und gleichzeitig feste Aussenpolitik, die stets ein Quid-pro-quo anstrebt, lässt sich dieses Ziel (Stärkung der gemässigten Elemente in den sowjetischen Machtorganen) erreichen. Antikommunistische Rhetorikübungen und gleichzeitige Wirtschaftshilfe, die ohne jegliche Gegenleistungen seitens der Sowjets erfolgt (wie z.B. die Aufhebung des Getreideembargos durch die Reagan-Regierung), sind kaum dazu angetan, die Aktionen der Sowjetführung zu beeinflussen.
Während zwar jegliche Befriedungsversuche des Westens katastrophale Folgen haben konnten, ist es keineswegs klar, dass ein zweiter Kalter Krieg im Interesse des Westens und der gemässigten Elemente innerhalb der Sowjetführung liegt.
Der Stalinsche Terror, der Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete, folgte zu einer Zeit, da die UdSSR von der Aussen weit fast völlig isoliert war (es handelt sich hierbei um die Jahre 1934-1938 und die Zeit Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre). Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Isolierung der Sowjetunion vom Westen den KGB-Terror fördert und stärkt. Nobelfriedenspreisträger Andrej Sacharow akzentuierte häufig die Gefahr des Eisernen Vorhangs, eines Informationsmangels und einer Kontaktsperre. Nur politischer Scharfblick des Westens kann das Schlimmste verhüten.

L.K.

[Aufbau Jan. 15, 1982. p.1]

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