Jahresbericht der “Amnesty International”

Unlängst wurde in London der jüngste Jahresbericht der Amnesty International (AI) veröffentlicht. (Amnesty International Re port, A.I. Publications. London, 1982). Der Bericht umfasst die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1981. Die für Wahrung universaler Menschenrechte kampfende Organisation existiert schon 21 Jahre. Die AI zahlt im Weltmasstab 350.000 Mitglieder und unterhält Zweigstellen in 41 Ländern. In anderen Ländern (meist Rechtsdiktaturen oder kommunistische Staaten) wird die AI durch Einzelpersonen oder Gruppen vertreten, die — ungeachtet aller Schwierigkeiten und Gefahren — Informationen für die Londoner Zentralstelle sammeln.
im Berichtsjahr 1981 hat die AI in 4952 Fällen Aktionen zwecks Befreiung politischer Häftlinge unternommen. Dank der Unterstützung seitens der AI wurden 1109 Internierte auf freien Fuss gesetzt. Amnesty International beschuldigt die Regierungen in 121 Ländern der Missachtung elementarer Menschenrechte, wobei politisch motivierte Mordtaten besonders hervorgehoben werden.
Der AI-Bericht umfasst fünf geographische Zonen: Afrika, Amerika, Asien, Europa, Mittlerer Osten und Nordafrika.

Amerika

      Dem AI-Bericht zufolge ist die Situation in vielen Ländern Zentral- und Südamerikas schreckenerregend. Das elementarste Recht des Menschen — das Recht auf sein Leben — wird in vielen Fällen völlig missachtet. In El Salvador und Guatemala wurden 1981 Tausende Oppositionelle bestialisch umgebracht, wobei sogar Menschen ermordet wurden, die nur als potentielle Sympathisanten oppositioneller Parteien und Organisationen galten. Hunderte wurden in El Salvador und Guatemala — wie noch vor einigen Jahren in Argentinien — entfuhrt, meist von rechtsterroristischen Banden, und blieben verschollen. Die AI hat von der salvadorianischen Regierung Informationen in 550 Kidnapping-Fällen angefordert. Alle darauf bezüglichen Anfragen blieben unbeantwortet. Dem Bericht zufolge wurden in Guatemala allein im Jahre 1981 über 3000 politisch Verdächtige ermordet.
In Nikaragua haben die regierenden Sandinisten mindestens 3000 politische Gegner, die als Anhanger des ehemaligen Diktators Somosa gelten, in Haft genommen. Obwohl die Strafurteile von den inzwischen aufgehobenen Sondergerichten gefallt wurden, dürfen die politischen Häftlinge gegen de Urteilssprüche keine Berufung einlegen.
Laut Bericht der AI lassen sich auch in Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und auf Haiti massenhafte Verletzungen elementarer Menschenrechte nachweisen. Im AIBericht figuriert auch die “Freiheitsinsel ” Kuba, wo es zu einer traurigen Tradition geworden ist, dass Polit-Gefangene — nach Ablauf einer oft 20 Jahre währenden Freiheitsstrafe — zu zusätzlichen Strafterminen verurteilt werden.

Asien

       In den meisten Ländern Asiens, heisst es im AI-Bericht, wurden 1981 Hunderttausende Menschen nur deshalb in Gewahrsam genommen, weil ihre Ansichten mit der offiziellen Doktrin nicht übereinstimmten. Im Bericht wird ferner vermerkt, dass in den meisten asiatischen Ländern die Todesstrafe bisher noch nicht abgeschafft ist. Im Berichtsjahr hat sich die Zahl der rein politisch motivierten Todesurteile erheblich vermehrt. Die Gesetzgebung vieler Länder Asiens sanktioniert die Inhaftierung von Personen ohne vorhergehendes Verhör.
In manchen asiatischen Ländern hängt die Haftfrist von der Willkür der betreffenden Regierung ab. In diesem Zusammenhang werden an erster Stelle Vietnam und Laos erwähnt, wo Zehntausende in “Besserungsanstalten” gesperrt werden. Ähnlich geht es auch in der Volksrepublik China zu.
Politisch motivierter Morde und grausamer Behandlung Andersdenkender werden die Philippinen beschuldigt. Auch in Thailand und in Pakistan wurden 1981 — laut Bericht der AI — politische Gegner umgebracht.
Was Afghanistan anbelangt, vermerkt die AI, dass es an genaueren statistischen Angaben mangelt. Die internationale Menschenrechtsorganisation nimmt jedoch an, dass es 1981 im Kabuler Gefängnis mindestens 3000-4000 politische Häftlinge gab. Die AI wirft sowohl der afghanischen Regierung als auch den islamischen Insurgenten vor. Kriegsgefangene niedergemetzelt zu haben.

Europa

       Was die Lander Westeuropas anbetrifft, so handelt es sich im AI-Bericht meist um die Missachtung der Menschenrechte von moralisch oder religiös motivierten Militärdienst Verweigerern.
In Europa widmet der AI-Bericht den Ländern des Sowjetblockes besondere Aufmerksamkeit. Polen wird hier an erster Stelle erwähnt. Nach Einfuhrung des Kriegsrechtes am 13. Dezember 1981 wurden Tausende “Solidaritäts”-Aktivisten — ohne Verhör und Gerichtsverhandlung — interniert (bekanntlich wurden Ende 1982 viele “Solidaritäts”-Anhänger wieder auf freien Fuss gesetzt, dennoch sind auch jetzt noch Hunderte politischer Aktivisten und Andersdenkender ihrer Freiheit beraubt und schmachten nach wie vor in polnischen Lagern).
Der AI-Bericht weist auch auf die Tatsache hin, dass in der DDR, Bulgarien, Rumänien und anderen Ländern des Ostblocks, Menschen nur deshalb im Gefängnis sitzen, weil sie versucht haben, auf illegale Weise das Land zu verlassen. In fast allen Ländern des Sowjetblockes (möglicherweise mit Ausnahme Ungarns) werden Menschen wegen der Äusserung politisch nichtkonformistischer Ansichten zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt (in Osteuropa werden derartige “Vergehen” als “Verbreitung staatsfeindlicher Propaganda” qualifiziert).
Der Bericht weist darauf hin, dass es in der Sowjetunion um die Menschenrechte besonders schlecht bestellt ist: die Zahl der Dissidentenprozesse nimmt dauernd zu, wobei zu beachten ist, dass rein politische Prozesse oft als Knminalfälle verschleiert werden.
Im AI-Bericht heisst es u.a. “In der UdSSR leiden politische Häftlinge nach wie vor Hunger. Den Inhaftierten wird oft elementare ärztliche Behandlung verweigert. Die Polit-Haftlinge werden gezwungen, schwere — zuweilen lebensgefährliche — Arbeit zu verrichten. In den ‘psychischen Heilanstalten’ werden den ‘Patienten’ hohe Dosen neuroleptischer Arzneien verabreicht”.
Der AI-Bericht weist auf die zahlreichen Verhaftungen von sowjetischen Baptisten, Adventisten, Katholiken, Rechtgläubigen und Vertretern anderer Konfessionen hin. Es kommt auch immer häufiger zu Verhaftungen von Nichtrussen, die gegen die Russifizierung des Landes protestieren. Verhaftet oder verbannt werden auch sowjetjüdische oder sowjetdeutsche Auswanderungsaktivisten .

Afrika und Mittlerer Osten

       Fast in allen Ländern Afrikas — sei es in Uganda, Mozambique, Angola oder Südafrika — werden Menschenrechte völlig ignoriert. Die Lage in den afrikanischen Strafanstalten spottet jeder Beschreibung. Politische Gegner werden vielfach in den Gefängnissen umgebracht.
In Nordafrika und in den Ländern des Mittleren Ostens herrschen geradezu grauenhafte Zustände (politisch motivierte Mordaktionen, Hinrichtungen, Entführungen politischer Aktivisten u.a.m.). Hunderte Menschen wurden in Syrien — aus politischreligiösen Motiven — umgebracht.
Sowohl der syrische als auch der libysche Sicherheitsdienst liquidiert auch im Ausland lebende politische Gegner. 1981 wurden im Iran an die 3000 Menschen hingerichtet (die faktische Zahl der politisch motivierten Hinrichtungen liegt wahrscheinlich bedeutend höher). In Iran, Irak, Marokko, Syrien und im kommunistischen Südjemen werden politische Häftlinge gefoltert.
Der AI-Jahresbericht informiert den Leser eingehend über die Schrecken unserer Zeit, unbeschadet der Frage, ob die angeprangerten Verstösse gegen Menschenrechte und Menschenwürde Rechtsdiktaturen oder totalitären kommunistischen Staaten zur Last gelegt werden.        L.K.

[Aufbau. Jan. 28, 1983. p.6.]

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