30 Jahre nach Stalins Tod

Am 5. März 1953 starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Eine Epoche des Terrors und des Schreckens fand ein Ende. Obwohl der Tod des Tyrannen von zahlreichen Parteifunktionären und auch von irregeführten Sowjetbürgern betrauert und bejammert wurde, brachte dieses historische Ereignis Millionen politischer Häftlinge die langersehnte Freiheit. Die unter Stalin aberkannten Bürgerrechte der aus den Gefangnissen und Arbeitslagern entlassenen unschuldigen Sowjetbürger wurden 1955-1956 wiederhergestellt. Doch noch grösser war die Zahl derjenigen Opfer des Stalinschen Terrors, die in den Lagern verhungert oder erfroren waren.
Chruschtschews Enthüllungen über Stalins Verbrechen, die euphemistisch als “Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit” bezeichnet wurden, kündeten einen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion an. Chruschtschews berühmte Rede auf dem 20. Parteikongress i.J. 1956 kam nicht nur für den Westen, sondern auch für die Sowjetbevölkerung völlig unerwartet. Chruschtschew hatte auf dem 20. Parteikongress auf das Vertrauen der Massen gesetzt.
1964 wurde Chruschtschew gestürzt und Leonid Breschnjew kam an die Macht. Der Königmacher Michail Suslow, der die Interessen der Stalinschen Parteielite verkörperte, fungierte hinter den Kulissen und brachte Nikita Chruschtschew zu Fall. Die stalinistisch orientierten Parteifunktionäre und die immer mächtiger werdenden Militärs unterstützten Breschnjew. Eine der wichtigsten Funktionen Leonid Breschnjews bestand damals darin, den von Chruschtschew initiierten Destalinisierungsprozess zu stoppen, ohne jedoch die Beschlüsse des 20. Parteikongresses zu kompromittieren.
Bis Mitte der siebziger Jahre war die Breschnjew-Ära von Erfolg gekrönt. 1965-1975 betrugen die Wachstumsquoten der Sowjetwirtschaft sechs Prozent. Auch die Détente und der amerikanisch-sowjetische Handel förderten die Entwicklung der Sowjetwirtschaft. Dank den energischen Bemühungen des inzwischen verstorbenen Verteidigungsministers Marschall Gretschko wurde die sowjetische Aufrüstung vorangetrieben. Schon 1972 erkannte Präsident Nixon die UdSSR als gleichrangige Supermacht an.
Mitte der siebziger Jahre kam jedoch der Entwicklungstrend in der Sowjetunion zum Stillstand. Eine Stagnierung der Wirtschaft trat ein. Dir Geburtsquoten im westlichen Teil der UdSSR begannen zu sinken. Gleichzeitig liess sich ein rapider Geburtenzuwachs in Mittelasien und in Kaukasien beobachten. Der mohammedanische Bevölkerungsanteil ist in stetem Wachsen begriffen, während die Russen bis Ende des Jahrhunderts weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen werden.
Ein Arbeitskraftmangel könnte schon gegen Ende der achtziger Jahre besonders akut werden. Schon heute weist die Energieversorgung einen Abwärtstrend auf. Besonders schlimm steht es um die Landwirtschaft, Leonid Breschnjew sah sich genötigt, Millionen Tonnen Getreide aus dem Westen einzuführen. Missernten in drei aufeinander folgenden Jahren haben die sowjetische Agrarkrise um ein Bedeutendes verschärft.
Breschnjew hat seinem Nachfolger Jurij Xndropow ein schweres Erbe hinterlassen. Moskaus Expansionspolitik, die zu dem kaum gewinnbaren Krieg in Afghanistan geführt hat, und die uneingeschränkte Aufrüstung werden auf Kosten der Sowjetbevölkerung betrieben. Die Aufrüstung und die Militarisierung der Wirtschaft hemmen die Entwicklung der Konsumgüterproduktion.
In den ersten Monaten der neuen Andropow-Ära besetzten Polizeiaufgebote Kaufhäuser, Kinos, Bierhallen u.a. Das Ziel dieser Razzien war die Festnahme all derjenigen, die sich gesetzeswidrig von ihrem Arbeitsplatz entfernt hatten.
Zu Breschnjews Zeiten war es gang und gäbe, dass Arbeiter und Angestellte während ihrer Arbeitszeit Lebensmittel einkauften (am Abend sind die Läden leer, fast sämtliche Waren sind schon vergriffen). Nicht selten kam es dazu, dass sich Industriearbeiter in ihrem Betrieb betranken. Davon kann ganz Russland ein Lied singen. Andropow bemüht sich, die Korruption und die mangelnde Arbeitsdisziplin durch Polizeimassnahmen auszumerzen. Der Erfolg dieser neuen Kampagne ist zurzeit durchaus problematisch.
Wäre es möglich, dass der ehemalige KGB-Chef Andropow — angesichts der wirtschaftlichen Sackgasse — eine Art Neostalinisierung einführen könnte? Obwohl Andropow rücksichtslos jeglichen Dissens unterdrückt (er hat sich mit den Finessen dieser “Kunst” 15 Jahre lang befasst), wird er heute mit potentiellen Sklavenarbeitern die Wirtschaftsprobleme der UdSSR nicht lösen können.
Stalin gelang es seinerzeit, die Industrialisierung mit Hilfe von Millionen Sklavenarbeitern voranzutreiben. Die damalige Sowjetwirtschaft war aber in struktureller Hinsicht recht primitiv und nur in geringem Mass spezialisiert. Andropow braucht heute vor allem technische und wirtschaftliche Facharbeiter und Experten. Enorme Kapitalinvestitionen sind vonnöten. Durch eine Rückkehr zum Stalinismus könnten diese Probleme nicht gelöst werden.
Offenbar hat Andropow seine Machtposition noch nicht genügend gefestigt. Nominell gibt es nicht einmal einen Präsidenten der UdSSR. Das Kräfteverhältnis im Politbüro liegt im dunkeln. Offiziell unterstützt der ehemalige Breschnjew-Günstling Tschernenko den neuen Parteichef. Niemand aber weiss, was im Kreml eigentlich vorgeht. Problematisch sind auch Andropows Beziehungen zur Armeespitze.
Andropows Kampf gegen Korruption und Schlamperei, seine Aufrufe zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, können selbstverständlich eine stabile Wirtschaftsentwicklung nicht gewährleisten. Nur Reformen, Dezentralisierung und eine Abkehr von der Bürokratisierung des Apparats könnten eine neue wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen. Die Unternehmen müssten von der zentralen Kontrolle befreit werden. Nur auf diese Weise könnten die Produzenten an einer Leistungssteigerung interessiert sein.
Wirtschaftsreformen in der UdSSR sind undenkbar ohne ein amerikanisch-sowjetisches Abrüstungsabkommen. Ein atomares Wettrüsten lässt sich mit Reformbestrebungen nicht vereinen. Eine ost-westliche Kompromissbereitschaft liegt im Interesse sowohl der 260 Millionen Sowjetbürger als auch der freien Welt.

L.K.

[Aufbau Mar. 25, 1983. p.7]

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