Betreten der Botschaft verboten

Kontakt zu ausländischen Missionen kann im Ostblock schlimme Folgen haben

Kürzlich erreichte den Westen ein Brief der Braut des sowjetischen Polithäftlings Jurij Butschenko. Der Brief schildert das tragische Schicksal des schon zum zweiten Mal Verhafteten. Irina Nagle, Butschenkos Braut, berichtet aufs genaueste, wie und warum Butschenko im August 1974 zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und im Juni 1983 schon wieder in Gewahrsam genommen wurde.
Jurij Butschenko, ein Tonmeister aus der sibirischen Stadt Nowokusnezk, wurde 1974 einzig and allein deshalb verurteilt, weil er sich wahrend eines Aufenthalts in Leningrad mit einem US-Diplomaten treffen wollte. Dieser Wunsch wurde ihm vom Sowjetgericht als ‘”Landesverrat” vorgeworfen. Das Urteil lautete auf acht Jahre Arbeitslager wegen eines angeblichen “Versuches, einer fremden Macht (im gegebenen Fall den USA) dabei behilflich zu sein, eine gegen die Sowjetunion gerichtete feindliche Tätigkeit auszuüben”.
Was war dem Leningrader Strafverfahren vorangegangen? Im August 1974 fand ein Angestellter des Leningrader US-Konsulats im Hof einen an den amerikanischen Konsul gerichteten Brief vor. Der Amerikaner übergab das Schreiben vermutlich einem der Beamten des Konsulats. Butschenko, der Verfasser des Briefes, hatte ihn durch einen Gitterspalt in den Konsulatshof geworfen. Im Schreiben sprach der damals Zweiundzwanzig- jährige den Wunsch aus, sich mit dem US-Konsul zu treffen. Butschenko machte kein Hehl daraus, dass er die Sowjetunion für einen totalitären Staat halte. Mit dem Konsul beabsichtigte der Nowokusnezker, die russischsprachigen Sendungen der “Voice of Amenca” zu erörten und an der Gestaltung einiger Programme Kritik zu üben.
Falls der Konsul an einer Begegnung mit dem jungen russischen Hörer interessiert sein sollte, so möge er sich zu einer im Brief vorgeschlagenen Stunde — an einem bestimmten Ort — einfinden. Selbstverständlich hatte der junge Mann leichtsinnig gehandelt. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass sein Brief nicht dem Konsul übergeben, sondern einem Leningrader KGB-Mann in die Hände fallen würde.
Zur verabredeten Zeit erschien ein elegant gekleideter, höflicher Mann, der gut englisch sprach. Der Mann gab sich als Vertreter der US-Konsulats aus. Der arglose Jurij sprach mit dem “Amerikaner” frei von der Leber weg.
Der fliessend englisch sprechende KGBOffizier war ein wenig enttäuscht, dass sein Gesprächspartner keine ernsten Verbrechen im Sinn hatte. Er gehörte also zu den “unzufriedenen Demokraten”, die sich die verschiedenen westlichen “Stimmen” und “Wellen” anhörten. Der Pseudodiplomat gab sich höchst leutselig und schlug Jurij vor, alle seine Vorschläge niederzuschreiben. Ein paar Tage danach sollte die nächste Begegnung der beiden stattfinden.
Jurij Butschenko hegte anfangs Zweifel daran, ob er wirklich alles, was er denke, niederschreiben sollte. Da er aber seinem Gesprächspartner vertraute und ihn für einen waschechten Amerikaner hielt, entschloss er sich, seine kritischen Bemerkungen auf einem Tonband aufzuzeichnen. Mit seinem Tonbandgerät erschien er zur Verabredung. Sein “amerikanischer” Freund war nicht erschienen. Der KGB-Major hatte dafür Sorge getragen. dass der aufrührerisch gestimmte Sibirier in Haft genommen würde. Englischkenntnisse ohne weiteres anvertraut.
Unbeantwortet bleibt die Frage, auf welche Weise Jurijs Brief aus dem Gebäude des US-Konsulats in die Hände des KGB geraten konnte. Logischerweise ist anzunehmen, dass sich ein Sowjetagent in das Leningrader US-Konsulat eingeschlichen hatte.
Ende 1982 wurde Butschenko, nachdem er die acht Jahre abgesessen hatte, auf freien Fuss gesetzt. Er begab sich in seine Heimatstadt Nowokusnetzk. Aber schon am 6. Juni 1983 wurde Jurij wieder festgenommen. Was hatte er verbrochen? Diesmal war er angeklagt, “die Regeln der administrativen Überwachung böswillig übertreten zu haben”.
Administrative Überwachung tritt in der UdSSR meist nach Freilassung eines Sträflings in Kraft. Der betreffende Bürger ist verpflichtet: 1) sich einmal wöchentlich im Polizeirevier zu melden; 2) eine polizeiliche Genehmigung einzuholen, falls er beabsichtigt, die Stadt zu verlassen; 3) nicht spater als acht Uhr abends heimzukehren und danach nicht mehr auszugehen.
Um Jurij Butschenko das Leben sauer zu machen, wurden ihm folgende Vergehen zur Last gelegt: er habe sich zu spat im Polizeirevier gemeldet, als der Inspektor nicht mehr zur Stelle gewesen sei; er habe sich (krankheitshalber) eine Woche lang überhaupt nicht gemeldet; und schliesslich sei er einmal erst um neun Uhr abends nach Hause gekommen.
Aufgrund dieser Verstösse wurde Jurij Butschenko erneut festgenommen. Wegen seines naiven Briefes, den er vor zehn Jahren verfasst hat, droht ihm jetzt, den grössten Teil seines Lebens in diversen Arbeitslagern verbringen zu müssen.
In der DDR wird das Betreten westlicher Botschaften strafrechtlich verfolgt. Zwar fällt die Strafe “milder” aus als in der UdSSR, aber immerhin handelt es sich um eine Verletzung des internationalen Rechtes im allgemeinen and des Helsinki-Manifests im besonderen. Am 18. April d.J. wurde der DDR-Bürger Wolf Quasdort, von Beruf Baumaschinist, durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow zu einer Mindeststrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Die DDR-Nachrichten-Agentur ADN berichtete darüber auf folgende ungeschickte Weise:
“Wolf Quasdorf hat als Bürger der DDR dem Ausland Nachrichten zukommen lassen, die durch ihren festgestellten Inhalt, ihre Aussage und die Art der Darstellung den Interessen der DDR Schaden zufügen”.
Quasdorts Vergehen bestand darin, dass er die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin besucht hatte. Quasdorf war in der unabhängigen Friedensbewegung engagiert and hatte zudem Anfang März einen Ausreiseantrag gestellt.
Die DDR ist nach dem internationalen Skandal, den das Asylbegehren der Nichte des Ministerpräsidenten Stoph hervorgerufen hat, besonders auf der Hut. Die Nichte Stophs befindet sich jetzt — mit ihrer Familie — in der Bundesrepublik Deutschland. Die DDR hat nach diesem peinlichen Vorfall in der westdeutschen Botschaft in Prag angedeutet, dass sie in analogen Fällen nicht mehr nachgeben werde.
Immerhin ist es in Ost-Berlin noch möglich, eine westliche diplomatische Mission zu betreten. Die bösen Folgen treten meistens nachher ein. In Moskau lassen die vor sämtlichen Botschaften und Konsulaten wachhabenden Polizisten und KGB-Leute Sowjetbürger, die keinen Auslandspass vorweisen können, überhaupt nicht hinein.
Nicht die Botschaften werden beschützt, sondern die eigenen Bürger überwacht. Eine löbliche Ausnahme bildet Budapest. Die Ungarn haben ja das Recht, einmal im Jahr (westliche oder östliche) Auslandsreisen zu unternehmen. Deswegen gibt es dort keine Überläufer. Die ungarischen Behörden fürchten auch nicht, ihre Bürger ausländische diplomatische Missionen betreten zu lassen.
L.K.

[Aufbau Jun. 22, 1984 p.1]

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