Jüdische Emigration aus der Sowjetunion

Ursachen, Hintergründe

LOS ANGELES. — Die Auswanderung von Sowjetjuden, die in grösserem Ausmass 1970 einsetzte und Ende 1974 die Zahl von 100.000 Menschen überstieg, hat anfangs nicht nur im Westen und in Israel überraschend gewirkt, sondern hat auch die sowjetischen Behörden in Erstaunen versetzt. Für das Weltjudentum war diese Emigration eine Art positiver Schock, die Renaissance eines nationalen Selbstbewusstseins, mit dem man nicht mehr gerechnet hatte.
Ende der vierziger Jahre, als in der sowjetischen Presse die berüchtigte Kampagne gegen den sogenannten “Kosmopolitismus” zu einem der Hauptthemen der sowjetischen Propaganda wurde, war es für die Sowjetjuden nicht schwer zu erkennen, gegen wen dieser Feldzug gerichtet war. Die Zeitungen machten keinen Hehl daraus, was unter einem “Kosmopolit” zu verstehen war. Der ursprüngliche jüdische Familienname wurde in Klammern dem russisch klingenden Pseudonym von Schriftstellern und Künstlern nachgesetzt. “Unpatriotische Haltung und westliche Orientierung” wurden zu Begriffen, die man mit dem Judentum identifizierte.
1952 kam es zur physischen Vernichtung jüdischer Schriftsteller und Schauspieler (Markisch, Suskin, Pfeffer, Bergelson, usw.). Heute zweifelt schon niemand daran, dass der “Verkehrsunfall”, dem der bekannte sowjetische Schauspieler Michaels zum Opfer fiel, ein von oben geplanter Mord war. Ihren Höhepunkt erreichte die antisemitische Kampagne in der UdSSR Anfang 1953, als einzig und allein Stalins Tod die Gefahr einer Deportation von den grössere Städte bewohnenden Sowjetjuden abwandte. Das diesen Ereignissen zugrundeliegende “Ärzte-Komplott” und das damit zusammenhängende Gerichtsverfahren belasteten das damit zusammenhangende jedes sowjetischer Juden mit einem oft verdrängten jedoch latent stets vorhandenen Angst-Komplex. Relativ ruhiger Zeiten traten in der Chruschtchow obwohl die obligatorische Angabe der im Pass verzeichneten Nationalität bei der Ausfüllung des Fragebogens etwa bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle oder beim Versuch, sich immatrikulieren zu lassen, eine Hürde darstellt, die jedoch bei einiger Geschicklichkeit oder beim Vorhandensein nützlicher Bekanntschaften vermieden werden konnte.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg setzte eine massive, angeblich antizionistische, aber ihrem eigentlichen Wesen nach antisemitische Kampagne in allen Massenmedien ein, die auch heute noch anhält. Antikommunismus und Faschismus werden in Zeitungsartikeln, Rundfunk- und Fernseh-Sendungen dem Zionismus gleichgesetzt. Fast täglich bringen sowjetische Zeitungen antizionistische Karikaturen, die ihrer gezielten Wirkung nach rein antisemitisches Machwerk sind und häufig an den “Stürmer” und den “Völkischen Beobachter” erinnern. (“Weltjudentum” ist hier jedoch durch “Weltzionismus” ersetzt).
Redselige Personalchefs machen heute in der Sowjetunion kein Ge¬heimnis daraus, dass es eine ungeschriebene Regel gibt, derzufolge “Angehörige der Nicht-Stammbevölkerung” (Synonym für Juden) nicht eingestellt werden dürfen (falls es sich um akademische Arbeitsstellen oder um einen sonstigen mehr oder weniger verantwortlichen Posten handelt). Auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stossen junge Sowjetjuden beim Versuch, sich an einer Universität immatrikulieren zu lassen.
Während in den dreissiger Jahren, zur Zeit der grossen Stalinschen ‘Säuberungsaktion niemand wissen konnte, ob er nicht eines Tages zu einem “klassenfremden”. Element erklärt und verhaftet werden würde, hat sich heute die ideologische Situation gewandelt und vereinfacht — der Jude ist jetzt der wahre innere Feind. Zu “Juden” werden hierbei auch oft waschechte Russen, sofern sie politische Dissidenten sind, gestempelt. Dem dienen Gerüchte, die von der KGB in Umlauf gesetzt werden. “Der Jude” ist in der UdSSR schon zu einem erweiterten Begriff geworden und umfasst beinahe alles, was der Sowjetideologie widerspricht, er ist sozusagen das “Böse an sich”.
In dieser Hetz-Atmopshäre ist es kein Wunder, dass Zehntausende von sowjetischen Juden es vorziehen, das Risiko auf sich zu nehmen, das mit einem Antrag auf Ausstellung eines Auswanderungsvisums verbunden ist. Sie sind bereit, die vielen Erniedrigungen und Gefahren auf sich zu nehmen, die einem solchen Schritt zu folgen pflegen: Betriebsversammlungen, in denen man zu “Verrätern des Vaterlandes” erklärt wird, Entlassung, Relegation, Verfolgung durch die KGB, womöglich auch Verhaftung und Arbeitslager.
Im Westen unterschätzt man oft die Bedeutung der taktischen Richtlinien des Kreml, die eine jüdische Auswanderungsbewegung erst ermöglicht haben. Zweifellos ist die jüdische Protestbewegung in der Sowjetunion und ihre Unterstützung durch den Westen ein massgebender Faktor. Der Auswanderungsbewegung hätte aber niemals derartige Ausmasse annehmen kön¬nen, wenn eine von den Sowjetbehörden manipulierte und kontrol¬lierte Emigration nicht den Inter¬essen Moskaus entsprochen hätte. Mehr darüber im nächsten Bericht.
(Wird fortgesetzt)
Robert Herzenberg

[Aufbau Apr. 25, 1975. p.4]

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