Moskaus Eiertanz im Nahen Osten

Der Zynismus der sowjetischen Aussenpolitik

Von ROBERT HERZENBERG

Kurz nach Jahresbeginn meldeten führende amerikanische und westeuropäische Blätter, dass in der Schweiz ein Geheimtreffen zwischen dem israelischen Aussenminister Yigal Allon und einem hochgestellten Repräsentanten des Kreml stattgefunden habe. Diese Nachricht war ursprünglich von der ägyptischen Wochenzeitung “Rose el Youssef” verbreitet worden. Das ägyptische Presseorgan verwies hierbei auf drei Bedingungen, die die Sowjets angeblich als Voraussetzung für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der UdSSR gestellt hatten: 1) Räumung der während des Sechstage-Krieges besetzten Gebiete; 2) Anerkennung der PLO durch Israel und 3) israelische Zustimmung zur Bildung eines palästinensischen Staates in Westjordanien und im Gasastreifen.
Obgleich in Jerusalem die Nachricht vom Geheimtreffen offiziell dementiert wurde, liegt eine Wiederaufnahme inoffizieller sowjetisch-israelischer Kontakte durchaus im Bereich der Möglichkeiten. Die Tatsache, dass in den letzten Jahren derartige Kontakte stattfanden, lässt sich nicht in Abrede stellen. Inoffizielle Gespräche wurden zwischen den Vertretern beider Länder sowohl auf ministerieller als auch auf Botschafterebene geführt. Aba Eban und Andrej Gromyko trafen sich in Genf, Simcha Dinitz und Sowjetbotschafter Dobrynin in Washington).
Wovon zeugen diese diplomatischen Aktivitäten des Kreml? Um diese Frage beantworten zu können, ist ein kurzer Rückblick auf die Motivationen der Moskauer Nahostpolitik erforderlich.
Wer sich bei der Beurteilung der Moskauer Israel-Politik einzig und allein von der massiven antizionistischen Propaganda der kommunistischen Massenmedien leiten lässt, gerät leicht in die Gefahr, die ideologische Komponente der sowjetischen Aussenpolitik zu überschätzen und die bis an Zynismus reichende sowjetische Opportunitätspolitik zu unterschätzen.
1948 spielte Moskau eine höchst konstruktive Rolle in den UN bei der Gründung Israels. Gromyko bezeichnete damals Israel sogar als historische Heimat des jüdischen Volkes. Moskaus damalige pro-israelische Haltung hatte nichts mit Solidarität oder anderen moralischen Kriterien zu tun. Sie lässt sich nur damit erklären, dass bei der damaligen Machtkonstellation im Nahen Osten der Kreml auf die Gunst der arabischen Staaten nicht rechnen konnte (sie waren damals ausnahmslos prowestlich orientiert). Demnach hoffte Moskau, in einem von ihm unterstützten Judenstaat Fuss zu fassen und auf diese Weise in diesem wichtigen geographischen Raum eine politische Rolle spielen zu können.
Da das Hauptziel der nahöstlichen Politik des Kremls auf eine sowjetische Präsenz gerichtet war, liess sich die Annäherung zwischen Moskau und dem “progressiven” arabischen Regime leicht voraussehen. Was mit Hilfe von Israel nicht gelungen war, versuchten die Moskauer Machthaber auf dem Wege pro-arabischer Politik zu erzielen.
Wie bekannt, steuerte die UdSSR 1967-1973 einen Kurs, der Spannungen erzeugte, einen Krieg aber vermeiden sollte. Sowohl in Ägypten als auch in Israel verstand man damals, dass die sowjetische Taktik auf einen Zustand ausgerichtet war, der weder zum Frieden noch zum Krieg führen sollte. Auf diese Weise hoffte man in Moskau die Position im Nahen Osten am besten wahren zu können.
Nach der ägyptischen Umschaltung auf Washington, die sich 1975 endgültig abzeichnete, sah sich Moskau genötigt, sich auf die extremistisch eingestellten Araberstaaten (Libyen, Syrien, Irak) zu stützen. Auch die militärische und politische Unterstützung der PLO durch Moskau ist hierbei keineswegs verwunderlich.
Jedoch sehen sich die sowjetischen Machiavellisten in jüngster Zeit gehandicapt, und zwar durch die Pendelpolitik Henry Kissingers. Dank dieser intensiven, mehrseitigen diplomatischen Bemühungen des amerikanischen Aussenministers ist es gelungen, Sadat umzustimmen und Ägypten der sowjetischen Einflussphäre zu entziehen.
In dieser Situation sind sich die Sowjets bewusst, dass sich der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel für Moskau schädlich auswirkt. Gerade heute, wo sich Moskau aktiv für die Wiedereinbe- rufung der Genfer Konferenz einsetzt, braucht der Kreml unmittelbare diplomatische Beziehungen zu Israel. Moskau muss jedoch auf die möglichen Reaktionen seiner unnachgiebigen arabischen Klienten Rücksicht nehmen. Aus diesem Grunde scheinen die Bedingungen, die die UdSSR als unerlässliche Voraussetzungen für die Wiederaufnahme sowjetisch-israelischer Beziehungen betrachtet, den realen Umständen zu entsprechen. Moskau ist zweifellos an einer vorsichtigen Normalisierung der Beziehungen zu Israel interessiert, fürchtet aber, die Gunst seiner arabischen Freunde einzubüssen.
Die sowjetische Führung hat seit 1967 mehrfach erklärt, dass sie sich für die sichere nationale Existenz sämtlicher Staaten des nahöstlichen Raums, einschliesslich Israels, einsetzt. Die Anerkennung der Existenz Israels liegt letzten Endes im eigenen Interesse Moskaus. Eine Vernichtung Israels würde eo ipso zum absoluten Verlust sowjetischen Einflusses auf die arabische Welt führen.
Somit sind sowohl Washington als auch Moskau an der staatlichen Existenz Israels interessiert. Der eigentliche Machtkampf zwischen den beiden Supermächten erfasst die komplizierten, in ständigem Wechsel befindlichen Beziehungen zur arabischen Welt.

[Aufbau Feb. 13, 1976. p.5]

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