Sowjetjuden um Wahrung ihrer Eigenständigkeit bemüht

Ergebnis einer Meinungsumfrage

Ende 1976 trafen sowjet jüdische Aktivisten und “Refuseniks” Vorbereitungen für ein wissenschaftliches Symposium, das Fragen der jüdischen Kultur in der UdSSR gewidmet war. Doch der KGB (sowjetischer Sicherheitsdienst) bekam von dem Vorhaben Wind und ging resolut ans Werk. Zahlreiche Haussuchungen wurden vorgenommen. Die Organisatoren des Symposiums wurden stundenlangen Verhören unterzogen. Es kam zu mehreren Verhaftungen. Am 17. November erklärte Prof. Benjamin Fain auf einer Pressekonferenz (in Anwesenheit westlicher Korrespondenten), dass das geplante Symposium polizeilicher Verfolgungen wegen nicht stattfinden werden könne. Führende sowjetjüdische Dissidenten (Prof. Alexander Lerner, Prof. Benjamin Fain, Dr. Viktor Brailowsky, Anatolij Schtscharansky, Wladimir Slepak, Wladimir Prestin, Pawel Abramowitsch, Prof. Meiman u.a.) hatten für das Symposium wertvolle wissenschaftliche Vorträge und Dokumentarberichte vorbereitet. Der KGB war zwar imstande, den Zusammentritt der Tagung zu blockieren; er vermochte aber nicht, sämtlicher Materialien habhaft zu werden, wenngleich ein beträchtlicher Teil der Vorträge und Berichte beschlagnahmt wurde. Die sowjetische Geheimpolizei glaubte schon, ihr Ziel erreicht zu haben. Dennoch brachten es die sowjetjüdischen Aktivisten fertig, fast alle für das Symposium bestimmten Materialien — auf verschiedenem Wege — nach Israel zu schaffen (ausser den von dem KGB beschlagnahmten Durchschlägen gab es Reserveexemplare). 1978 veröffentlichte das Forschungs- und Dokumentationszentrum der Jerusalemer Universität eine russische Fassung der wichtigsten Symposiumsmaterialien. Eine englische Übersetzung ist gegenwärtig in Neu York in Vorbereitung.
Fain und eine Reihe anderer Aktivisten hatten — im Rahmen des geplanten wissenschaftlichen Unternehmens — eine Meinungsumfrage in der UdSSR veranstaltet, an der nicht weniger als 1500 Sowjetjuden teilnahmen. 70 Prozent der Befragten waren sowjetjüdische Akademiker aus 20 verschiedenen Städten. Die Resultate der im Untergrund durchgeführten demoskopischen Forschung weisen darauf hin, dass sich die Sowjetjuden — trotz der schon über 60 Jahre andauernden Zwangsassimilation — ihrer nationalen Identität bewusst sind und sich zu Geschichte und Kultur des Judentums bekennen.
96 Prozent der Befragten antworteten, dass sie gern ein Buch über die Geschichte des jüdischen Volkes kaufen würden, falls ihnen eine solche Gelegenheit geboten wäre. 80 Prozent bekundeten Interesse am Jiddischen, 60 Prozent wollten Hebräisch erlernen. Die Hälfte der Befragten würden ihre Kinder in jüdische Schulen schicken, falls es solche in der UdSSR gäbe.
Prof. Fain, der 1977 nach Israel auswandern durfte, weist darauf hin, das man bei der inoffiziellen Meinungsumfrage bemüht war, die Ansichten des sowjetischen Durchschnitsjuden in Erfahrung zu bringen. Eben aus diesem Grunde wurden “Refuseniks”, Aktivisten oder Auswanderungswillige, nicht befragt. Wir gaben unsere Frage- bogen nur solchen Sowjetjuden, die in der UdSSR zu verbleiben beabsichtigten”, bemerkte Prof. Fain.
90 Prozent der Befragten würden gern mit Freunden in Israel in Briefwechsel treten, wenn sich hierbei politische Komplikationen vermeiden liessen. 87 Prozent würden ein jüdisches Restaurant besuchen, sollte ein solches jemals in der Sowjetunion eröffnet werden. Die Meinungsumfrage offenbart auch ein besonders aktive jüdisch-nationales Selbstbewusstsein unter sowjetjüdischen Jugendlichen.
Sowjetjuden sind meist mit Glaubensgenossen befreundet. 34 Prozent gaben an, dass ihre fünf engsten Freunde Juden seien. 22 Prozent der Befragten hatten gegen eine Mischehe nichts einzuwenden. 32 Prozent zogen es jedoch vor, dass ihre Kinder Juden heiraten. Von Interesse mag auch die Tatsache sein, dass die meisten jungen Leute gegen Mischehen eingestellt sind.
Aus der Meinungsumfrage geh: ferner hervor, dass nur fünf bis acht Prozent der Befragten aktive Gläubige sind (Einhaltung von Koscher-Vorschriften und Sabbatruhe; regelmässiger Besuch von Gottesdiensten).
Sogar Sowjetjuden, die sich gegen eine Alya nach Israel aussprechen und ihre Kinder (im internen Pass) als Russen zu registrieren suchen, sind in ihrer Mehrheit an der Wahrung des jüdischen Kulturgutes interessiert. Auch diese völlig assimilierten Juden verhalten sich positiv zu jüdischen Traditionen.
Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der Meinungsumfrage vermerkte Prof. Fain zu Recht, dass die sowjetischen Juden keine einförmige Masse seien, sondern sich — je nach geographischer Lage und Bildungsniveau — wesentlich voneinander unterscheiden.
Benjamin Fain weist auf folgende drei Hauptgruppen hin: 1) Juden aus den baltischen Republiken, der Westküste und Westbjelorussland (all diese Gebiete wurden 1940 von den Sowjets annexiert); 2) die kaukasischen Juden (Nicht-Aschkenasi); 3) die fast völlig assimilierten Juden aus Zentralrussland und der Ostukraine.
Der grösste Teil der Alya nach Israel kommt aus den beiden erstgenannten Gruppen (50 Prozent der der ersten und zweiten Gruppe gehörenden Juden haben die UdSSR bereits verlassen). Gruppe 3 ist in der UdSSR zahlenmässig am stärksten vertreten (fast zwei Millionen). Bis Ende 1978 waren nur zwei bis drei Prozent der assimilierten Juden aus Zentralrussland und der Ostukraine ausgewandert. Gegenwärtig beginnt sich die Lage zu ändern. Immer grösser wird die Zahl der Auswanderungswilligen aus Charkow, Odessa, Leningrad und Moskau. Der sich ständig verschärfende sowjetische Antisemitismus trägt zu einer Intensivierung der jüdischen Auswanderungsbewegung bei. Juden, die noch vor einigen Jahren keine Emigrationspläne hegten, fürchten heute — hauptsächlich ihrer Kinder wegen — in der UdSSR zu bleiben.
Auch die hochassimilierten Juden, die bei der Beantwortung der ihnen vorgelegten Fragen nicht zu emigrieren gedachten, sind an einer Wahrung des jüdischen Kulturgutes interessiert. Darin besteht die Bedeutung der von Prof. Fain und seinen Freunden durchgeführten demoskopischen Forschung.

[Aufbau Jul. 13, 1979. p.6]

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