Gärung in Polen schreitet fort

Gegenwärtig ist Polen wohl das schwächste Glied der Kette des sowjetrussischen Imperiums in Osteuropa. Die 20 in Polen stationierten, mit Raketen, Panzern und modernster Artillerie ausgerüsteten sowjetischen Divisionen sind nicht nur gegen die Streitkräfte der NATO in Europa gerichtet, sondern sind auch dazu berufen, den Status quo in diesem Satellitenland zu gewährleisten.
Zum Unterschied zur UdSSR und der Tschechoslowakei wird die polnische Dissidentenbewegung von Zehntausenden von Bürgern moralisch unterstützt. Als Gierek auf dem 7. Parteikongress, der im Dezember 1975 tagte, erklärte, dass die “Freundschaft zwischen Polen und der Sowjetunion ein integrierender Bestandteil der sozialistischen Völkergemeinschaft” seien, warfen die polnischen Arbeiter und sogar manche Gewerkschaftsfunktionäre der Warschauer Parteileitung vor, sie sei ein blindes Instrument des Kremls. Die Arbeiter wurden und werden von den Intellektuellen des Landes unterstützt. Ein von Kardinal Stefan Wyszynski, dem Primas der polnischen katholischen Kirche, sanktioniertes Memorandum enthält die folgenden Forderungen: Respektierung aller Bürgerechte seitens des Staates, uneingeschränkte Religionsfreiheit, Gewährleistung des Rechts auf religiöse Erziehung in Schule und Familie, Presse- und Streikfreiheit, Abschaffung der Zensor, geheime und freie Wahl der Gewerkschaftsleitung.
Edward Giereks Lage war und ist heikel. Einerseits fürchtet er, den Unmut Moskaus zu erregen, andererseits ist er pragmatisch genug, um zu verstehen, dass ein Modus vivendi mit der eigenen Bevölkerung und der mächtigen katholischen Kirche die Voraussetzung ist, ohne die neue ernste Unruhen im Lande unvermeidlich sind. Trotz dieser Erkenntnis muss Gierek sich dem vom Kreml auf ihn ausgeübten Druck fügen.
Im November 1978 veranstalteten 150 Mitglieder der Menschenrechtsorganisation “Verband für Schutz der Bürgerrechte” sowie Vertreter des “Befreiungskomitees” der polnischen Studentenschaft und mehrere aktive Gewerkschaftler Strassenkundgebungen im Zentrum Warschaus. Sämtliche Demonstranten wurden festgenommen, doch schon am nächsten Tag sahen sich Partei und Regierung genötigt, die Verhafteten freizulassen. Die Parteiobrigkeit befürchtete andernfalls den Ausbruch von Unruhen in verschiedenen Teilen des Landes.
Anfang 1979 appellierten die Mitglieder der in Polen mittlerweile organisierten freien Gewerkschaften an Generalsekretär Gierek, die Gewerkschaften von der Parteivormundschaft zu befreien und legten der Regierung eine “Charta der freien Gewerkschaften” vor. Damals glaubte der polnische Parteichef, die Lage durch eine Geste des guten Willens entschärfen zu können. Er verlieh dem bekannten Publizisten und Sympathisanten der freien Gewerkschaften, Stefan Kiselewski, den Andrej-Struga-Orden (A. Struga war während des Zarenregimes ein Kämpfer für die Unabhängigkeit Polens). Doch Giereks Eiertanz konnte nicht lange andauern. Es gärte weiter im Lande.
Unlängst verurteilte der Bischof von Kattowitz, Bernard Bednorz, Partei und Regierung, die “das Volk ausbeuten und das letzte aus ihm herauszuholen suchen”.
Die Arbeiter protestierten gegen die Gefügigkeit der polnischen Parteileitung Moskau gegenüber. Dreiviertel der polnischen Industrieproduktion wird — aufgrund von Comecon-Vereinbarungen — zu minimalen Preisen an Moskau geliefert. In Polen geht zurzeit folgender Witz um: “Wir leben wie Amerikaner. Für Zlotys kann man nichts kaufen. Für Dollars ist alles zu haben.” Nach der päpstlichen Visite in Polen kam es zu offenen Protestaktionen verschiedener Dissidentengruppen, die die Wahrung der elementaren Menschenrechte fordern.
Anfang Dezember wurden etwa 80 Oppositionelle festgenommen. Die Verhaftungen wurden aufgrund eines Gesetzes vorgenommen, das es der Regierung ermöglicht, “staatsgefährdende” Elemente für die Dauer von zwei Tagen in Gewahrsam zu nehmen. Dieses Gesetz wird von den polnischen Behörden immer häufiger zu “präventiven” Zwecken angewandt.
Die Dissidenten hatten in Warschau und in vier anderen polnischen Grosstädten Proklamationen verteilt, die die Bevölkerung dazu aufriefen, den Jahrestag der Unruhen in Gdansk und anderen Ostseehäfen (1970) mit Gedenkfeiern zu begehen. 40 Arbeiter büssten damals ihr Leben ein. Die Regierung Gomulka war gezwungen, zurückzutreten.
Beobachter nehmen an, dass Giereks jüngster repressiver Kurs mit dem für Februar 1980 anberaumten Parteikongress in unmittelbarem Zusammenhang steht.
Die KOR, Polens einflussreichste Dissidentengruppe, veröffentlichte anlässlich der jüngsten Verhaftungen eine Erklärung, in der es u.a. heisst: “Der heutige Polizeiterror wird unser Volk ebensowenig einschüchtern wie die Kugeln im Jahre 1970.”
L.K.

[Aufbau Jan. 18, 1980. p.5]

 SCAN