Polemik um Massenmord

Ideologische Auseinandersetzung in russischen Exilkreisen

Der französische Royalist Marquis de Colistin weilte 1839 im zaristischen Russland. Seine vor 140 Jahren veröffentlichte, aber heute wieder hochaktuelle Reisebeschreibung wird häufig in der russischen Emigrantenpresse zitiert und erhitzt den Streit zwischen Slawophilen und westlich orientierten Dissidenten. Für den Marquis war das russische Volk ein “Sklavenvolk, das durch seine Demut die Tyrannei ermöglicht und zugleich von Weltherrschaft träumt”. Während seines Aufenthalts im zaristischen Russland beobachtete er manche Erscheinungen, die auch in der Sowjetunion anzutreffen sind, wie z.B. strengste staatliche Zensur, Argwohn dem Westen gegenüber, Trunksucht u.a.m.
In ihrer politischen Analyse der Reiseschilderung de Coustins betonen prominente westlich orientierte Dissidenten, wie z.B. Andrej Amalrik, dass das Verständnis der Sowjetdiktatur nur dann möglich sei, wenn man den völligen Mangel an demokratischen Traditionen im vorrevolutionären Russland in Betracht ziehe.
Amalrik, Verfasser der vor etwa zehn Jahren im Westen erschienenen Schrift “Wird die UdSSR 1984 noch existieren?”, stellt die Sowjetdiktatur der zaristischen Tyrranei keineswegs gleich. Andrej Amalrik betont in mehreren unlängst in Paris veröffentlichten Artikeln, dass der Mangel an freiheitlichen Traditionen in Russland die Schaffung des sowjetischen totalitären Staates wesentlich erleichtert habe. Gleichzeitig hebt Amalrik den Unterschied zwischen dem Staatsterror im zaristischen Russland und dem in der Sowjetunion hervor. Während in der Zarenzeit tausende diesem Terror zum Opfer fielen, waren es in der Sowjetperiode (insbesondere unter Stalin) Millionen, die im GULAG umkamen.
Die demokratisch gesinnten Sowjetdissidenten-Schriftsteller (Alexander Sinowjew, Andrej Sinjawsky, Maria Rosanowa, Andrej Amalrik u.a.) sehen in der Reisebeschreibung de Coustins den Beweis dafür, dass die Geschichte eines Volkes — trotz revolutionärer Sprünge — als kontinuierlicher Prozess gewertet werden muss.
Vor etwa 100 Jahren traten im russischen Geistesleben zwei Bewegungen in Erscheinung — die Slawophilen und die sogenannten Westler. Die Geschichte wiederholt sich. Viele der heute im Exil lebenden russischen Intellektuellen sind wieder in diese beiden Gruppen gespalten. Der prominenteste Repräsentant der gegenwärtigen Slawophilen ist Nobelpreisträger Alexander Solschenitsyn. Vor einigen Wochen veröffentlichte “TimeMagazine” einen politischen Aufsatz Solschenitsyns der den Titel trug: “Kommunismus — allen sichtbar und von niemandem verstanden.” Darin beschuldigt Solschenitsyn den Westen, dass er nach wie vor dem Kommunismus Vorschub leiste. Dabei wirft er verschiedene Variationen des Kommunismus — Stalinismus, Maoismus und Titoismus — in einen Topf. Diese jüngste Streitschrift des Verfassers der “GULAG”-Trilogie blieb fast unbeachtet, obwohl sie mehrere Thesen enthält, die als neu gelten können. So schreibt Solschenitsyn z.B.: “Schon unter Lenin wurden in der UdSSR mehr unschuldige Menschen getötet, als während der Hitlerzeit . . . Europa hat den Hungertod von sechs Millionen Menschen in der Ukraine und im Kuban-Gebiet völlig ignoriert.” Die Assoziation zwischen dem Hillerregime einerseits und den sechs Millionen verhungerten Russen und Ukrainern andererseits ist eine unmissverständliche Anspielung auf die sechs Millionen Holocaust-Opfer, die man im Westen nicht vergessen hat.
Vom humanitären Standpunkt aus sind die Opfer jeglicher totalitärer Regime — kommunistischer oder faschistischer — gleicherweise tragisch. Für Solschenitsyn scheint ein Unterschied zu bestehen. Im gleichen Artikel betont er mehrmals, dass es die Russen sind, die in der Sowjetunion am meisten leiden. Bei der Aufzählung der heute in der UdSSR zu langen Freiheitsstrafen Verurteilten nennt Solsche nitsyn ausschliesslich russische Namen (Ossipow, Ogrzow, Orlow). Schtscharanskys und Mendeljewitsches Namen werden ausgelassen. Das lässt sich wohl kaum auf einen Zufall zurückführen.
Solschenitsyns Auffassung nach ist der Kommunismus für das russische Volk ein Fremdkörper. Er sei ihm durch “Fremdlinge” (gemeint sind wohl Juden, Letten, Polen u.a.) aufgezwungen worden. Vor mehreren Monaten wandte sich Solschenitsyn in einem in der “Zeit” veröffentlichten Artikel aufs schärfste gegen diejenigen Historiker, die das Sowjetregime als Fortsetzung der zaristischen Willkür betrachten.
Solschenitsyns krasser russischer Nationalismus wurde von dem heute in New York City lebenden sowjetischen Bürgerrechtler Tschalidse in der russischen Emigrantenpresse scharf kritisiert. Tschalidse, der in Moskau jahrelang mit Andrej Sacharow und dessen Kampf für die Wahrung der Menschenrechte aufs engste verbunden war, veröffentlichte in der New Yorker russischsprachigen Zeitung “Novoye Russkoye Slowo” einen gegen Solschenitsyn gerichteten polemischen Artikel “Eine neue Variation des Chomeinismus”). Darin wirft er dem weltbekannten Exilschriftsteller Engstirnigkeit und Chauvinismus vor.
Von grösstem Interesse ist die Tatsache, dass Nobelfriedenspreisträger Andrej Sacharow in einem in Moskau (kurz vor seiner Verbannung) stattgefundenen Interview zum Tschalidse-Artikel Stellung nahm. Sacharow vermerkte, dass er Solschenitsyns politische Ansichten keineswegs teile und mit Tschalidse im grossen und ganzen konform gehe. Er hob jedoch hervor, dass man zwischen Solschenitsyns literarischem Schaffen, das er bewundere, und seinen politischen Ansichten grundsätzlich unterscheiden müsse.
Petro Grigorenko, ein heute in den USA lebender ehemaliger Sowjetgeneral, der wegen seines aufrechten Kampfes für Wahrung der Menschenrechte sechs Jahre in verschiedenen Irrenanstalten der UdSSR verbringen musste, hat im jüngsten Heft der russischen Exilzeitschrift “Kontinent” einen gegen die heutigen Slawophilen gerichteten Beitrag veröffentlicht, Grigorenkos Behauptung, dass die Sowjetunion in vielem die imperialistische Politik des zaristischen Russlands fortsetze, hat den Unmut der russischen Exilnationalisten hervorgerufen.
Die Auseinandersetzung zwischen den heutigen Slawophilen und Westlern nimmt ihren Fortgang.
L.K.

[Aufbau Mar. 28, 1980. p.5]

   SCAN