Moskaus Dilemma in Polen

Zwischen Scylla und Charybdis

General Jaruzelskis Ernennung zum Warschauer Regierungschef ist ein Sieg des gemässigten reformorientierten Parteiflügels um Kania und Jagielski über die Moskau-Fraktion der ZK-Sekretäre Olszowski und Grabski.
General Jaruzelski, der bisherige Verteidigungsminister des Landes, vertritt aufs entschiedendste den Standpunkt, dass die polnische Armee gegen das Volk nicht eingesetzt werden dürfe. Der Einsatz der Armee würde “unsere Grossbetriebe zu fünfhundert Festungen machen”, hat General Jaruzelski noch vor kurzem gesagt. Es ist seinem Einfluss zu danken, dass das polnische Militär bisher neutral geblieben ist.
Von Bedeutung ist auch die Ernennung Rakowskis, des Chefredakteurs der Wochenzeitschrift “Polityka”, zum stellvertretenden Premierminister. Der liberal gesinnte Rakowski geniesst das Vertrauen breiter Kreise der Bevölkerung sowie der Führung der “Solidarität”-Gewerkschaften. Zurzeit haben in der Kommunistischen Partei Polens die gemässigten Kräfte, die für einen Dialog mit den freien Gewerkschaften eintreten, die Oberhand gewonnen. Auch Lech Walesa und die ihm nahestehenden Arbeiterführer setzen sich für die Kooperation mit den Warschauer Parteiund Regierungsinstanzen ein.
Rakowski schrieb jüngst in der “Politika”: “Die ‘Solidarität’-Bewegung erweckt gewisse Befürchtungen, andererseits kann man sich aber Polens Entwicklungsweg ohne diese Partnerschaft kaum vorstellen.”
Die Kommunistische Partei Polens und ihr Auftrag sind für Moskau — und damit für die Zukunft des polnischen Volkes — von entscheidender Bedeutung. Der Kreml braucht nicht zu befürchten, dass Polen seine Mitgliedschaft im Warschauer Pakt aufzugeben beabsichtigt. Die zehn Millionen “Solidarität”-Mitglieder trachten auch nicht danach, den Kapitalismus zu restaurieren.

Anstoss von unten
Eventuelle Wirtschaftsreformen in Polen dürften die Sowjets nicht aus der Fassung bringen. Schliesslich hat Moskau Kadars weitgehende Reformen in Ungarn geduldet.
Moskaus Дngste sind politischer Natur. Es sind weder die wirtschaftlichen Reformbestrebungen der Polen noch militärische Überlegungen, die den Kreml zu einer Intervention in Polen veranlassen könnten. Für das Politbüro der KPdSU ist die Tatsache, dass die Kommunistische Partei Polens die Gewalt über die Zensur und ihr Informationsmonopol hat aufgeben müssen, von katastrophaler Bedeutung. In dieser Hinsicht lässt sich die polnische Situation mit der Lage in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 vergleichen (die polnische Situation ist jedoch für Moskau eine bedeutend “härtere Nuss”, da die Demokratisierung nicht von der Parteispitze ausgeht, sondern von den Arbeitermassen initiiert worden ist).
Die “Solidarität” ist von Anbeginn an bedeutend mehr gewesen als eine blosse Gewerkschaftsvertretung, die sich um die Löhne der Arbeiter kümmert. Seit dem Augenblick, da im August letzten Jahres die polnische Nationalflagge (nicht die rote Fahne) auf der Schiffswerft von Gdansk gehisst wurde, spielte die “Solidarität”-Bewegung faktisch die Rolle einer nationalen Erneuerung (“Odnowa”).
Für den Kreml ist die polnische “Erneuerung” — im Vergleich zum “Prager Frühling” — bedeutend gefährlicher. Die Ereignisse haben dazu geführt, dass sich die polnische Variante des sowjetischen “Nomenklatur”-Systems im Zustand der Auflösung befindet. Bekanntlich gewährleistet die sog. Nomenklatur (von den Apparatschiks sanktionierte Listen der wichtigsten Partei- und Regierungsämter und der Personen, die sie bekleiden) die Vorherrschaft der roten Aristokratie. Das “Nomenklatur”-System funktioniert faktisch nicht mehr in Polen.

Autoritätsverlust
Die Partei hat in Polen ihre Autorität eingebüsst. 1,7 Millionen der insgesamt drei Millionen Parteimitglieder haben sich der “Solidarität” angeschlossen. Die Parteizellen zahlreicher Grossbetriebe existieren schon nicht mehr. Die Arbeiter der 162 grössten Industriebetriebe, die früher als Avantgarde des “neuen Polens” galten, sind der Solidarität” treu ergeben.
Schreckenserregend sind für die Sowjets folgende Ereignisse: Wochenlange Sitzstreiks polnischer Studenten haben es ermöglicht, dass das Studium der russischen Sprache und der Theorie des Marxismus-Leninismus nunmehr Wahlfächer geworden sind. Die neugebildeten Studentenorganisationen werden künftig bei der Erarbeitung des Lehrprogramms zumindest als gleichberechtigte Partner fungieren.
Die “Solidarität” hat es zuwege gebracht, dass ein exklusiver, nur den Parteibürokraten zugänglicher Kurort im wahren Sinne des Wortes zum Besitztum des Volkes geworden ist. Die Parteielite geht jetzt in Polen ihrer Privilegien verlustig.
Natürlich wirkt sich diese Entwicklung auch auf intellektuellem Gebiet aus. Der im Dezember 1980 neugewählte Vorsitzende des polnischen Schriftstellerverbandes ist Jan Jozef Szezepanski, ein katholisch orientierter Autor, dessen Werke noch vor kurzem von der Zensur verboten waren. Stefan Bratkowski ist jetzt Vorsitzender des Journalistenverbandes. Sieben Jahre lang durfte Bratkowski — seiner liberalen Gesinnung wegen — kein offizielles Amt bekleiden. Der neue Vorsitzende des Warschauer Journalistenverbandes ist Jacek Kalabinski. ein Rundfunkkommentator, der sich bisher von jeglicher Parteipropaganda ferngehalten hat.

Sowjets unter Druck
Die sowjetische Führung ist faktisch in eine ausweglose Situation geraten. Der Kreml hält eine militärische Intervention für unvermeidlich, ist sich aber der gigantischen Gefahren bewusst, die eine Invasion Polens nach sich zie hen könnte.
Moskau weiss dass jeder “verlorene Tag” die Kräfte der polnischen Erneuerung stärkt und die Positionen des Kremls schwächt. Andererseits hat der Kreml die unvorhersehbare Reaktion der polnischen Bevölkerung und der Armee des Nachbarlandes in Betracht zu ziehen. In Polen könnte es zu einem katastrophalen Prestigeverlust der sowjetischen Supermacht kommen. Die Sowjetarmee ist nicht einmal imstande, Afghanistan zu unterwerfen. In Polen sind für die Russen die Gefahren noch grösser Der polnisch-russische Konflikt reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Viermal sam es zur Teilung Polens. Jedesmal war Russland mit im Spiel.
Falls die Sowjets sich zu einer militärischen Intervention entscheiden sollten, wurden sie gezwungen sein, die Riesenschulden Polens zu übernehmen und die Bevölkerung des Landes mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern zu versorgen. Im Falle einer militärischen Aktion der Sowjets würde die polnische Bevölkerung höchstwahrscheinlich die Besatzungsmacht oder ihre polnischen Statthalter ignorieren und sabotieren.
Die sowjetisch-kubanischen Bemühungen, die Guerillas in El Salvador zu bewaffnen und den Bürgerkrieg in dieser mittelamerikanischen Republik zu intensivieren, sind — angesichts der akuten Gefahr in Osteuropa — ein verzweifelter Versuch, die Aufmerksamkeit des Westens von Polen nach Lateinamerika abzulenken. Das polnische Problem wird jedoch hierdurch nicht gelöst.

L.K.

[Aufbau Mar. 6, 1981. p.2]

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