Sowjetjuden in USA: Probleme der Identität

Vertreter zahlreicher jüdischer Gemeinden in den Vereinigten Staaten und Kanada äussern häufig die Befürchtung, dass sich ein beträchtlicher Teil der sowjetischen Immigranten in Amerika assimilieren und dabei den Weg zur jüdischen Identität nicht finden würde.
“Schon etwa 10 Jahre lang nehmen wir an Solidaritätskundgebungen für das Sowjetjudentum teil. Wir appellieren an unsere Senatoren und Gouverneure, sich für das Auswanderungsrecht der Sowjetjuden einzusetzen. Jahr für Jahr spenden wir Geldsummen für die Absorbierung der Sowjetjuden in Israel und Amerika. Und was sehen wir nun? Mangelndes Interesse der Neuankömmlinge an jüdischen Dingen. Nur wenige von ihnen besuchen die Synagoge. Viele von ihnen fühlen sich mit der russischen Kultur tiefer verbunden als mit der jüdischen. Warum sind sie dann nicht in Russland geblieben?”
Derart missbilligende Worte kann man heute mancherorts in den jüdischen Gemeinden Amerikas vernehmen. Dem Schreiber dieser Zeilen wurden solche Klagen von einem New Yorker Aktivisten der Upper West Side Manhattans aufgetischt.
Bei oberflächlicher Betrachtung des Problems scheinen diese Vorwürfe durchaus begründet. Die weit über 250.000 Sowjetjuden, die in den letzten 10 Jahren nach Israel oder Amerika kamen, sind in ihrer Mehrzahl religionslos (aber fast nie antireligiös). Mit der jüdischen Geschichte und jüdischen Traditionen sind sie nicht vertraut und offenbaren auch kein besonderes Interesse an Synagoge und Gemeindeleben. Jeder Jude der freien Welt sollte aber, bevor er seine russischen Brüder verurteilt, die Frage an sich richten: “Wie würde ich mich an ihrer Stelle verhalten haben? Hätte ich meine jüdische Religiosität und meine jüdischen Traditionen — nach 63 Jahren atheistischer Propaganda in der Sowjetunion — wahren können?” Jeder unvoreingenommene Mensch wird bei einer derartigen Analyse zugeben müssen, dass es ihm selbst — unter gleichen Umständen — höchstwahrscheinlich genauso ergangen wäre. Viele Israelis und amerikanische Juden scheinen heute schon vergessen zu haben, dass die sowjetjüdische Massenauswanderung — nach über 50 Jahren Isoliertheit vom Weltjudentum — ein wahres Wunder war und ist.
Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass in Zukunft die Emigration hauptsächlich aus der Russischen Sowjetrepublik (Moskau, Leningrad, Swerdlowsk u.a.), der Ukraine (Kiew, Charkow, Odessa, Donetsk u.a.m.) und aus Bjelorussland (Minsk, Gomel, Mogilew, Witebsk, Bobruisk) kommen wird. In den ersten Jahren der sowjetjüdischen Massenemigration stammten zahlreiche Auswanderer aus den baltischen Republiken (Lettland, Litauen, auch Estland), aus Bessarabien und Georgien. In diesen Randgebieten war jüdisches Kulturgut meist erhalten geblieben. Aber die Emigranten aus dem Kernland, Russland, Bjelorussland und der Ukraine sind in bedeutend grösserem Mass assimiliert und russifiziert.
Die sogen. Assimilierung der Sowjetjuden lässt sich nicht mit der der amerikanischen Juden vergleichen. Wie Simcha Goldberg aus New York in einem Vortrag auf der Jahrestagung des “Jewish Communal Service” in Denver (Colorado) vermerkte, steht es einem amerikanischen Juden frei, religiös oder areligiös zu sein, während Sowjetjuden, die gewillt sind, ihren religiösen Traditionen Ausdruck zu verleihen, mit den gegen sie gerichteten Repressalien seitens der Behörden rechnen müssen. “Deshalb wäre eine offene Manifestierung jüdischer religiöser Bräuche in der Sowjetunion eine Art Masochismus”, meinte Goldberg.
Anfang der fünfziger Jahre wurden auf Stalins Befehl 23 führende sowjetjüdische Schriftsteller, Dichter und Schauspieler im berüchtigten Lubjanka-Gefängnis erschossen. Das Moskauer jüdische Theater wurde schon Ende der vierziger Jahre geschlossen. Damals wurde der bekannte jüdische Schauspieler Michoels umgebracht (offiziell hiess es, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei). Stalin hat sein möglichstes getan, um die Überreste der jüdischen Kultur in der UdSSR mit Stumpf und Stiel auszurotten.
Dem sowjetischen Tyrannen ging es aber um mehr als Vernichtung der Kultur. Kurz vor seinem Tod inszenierten er und seine Getreuen den sogen. “Дrzteprozess”, der den Auftakt zu einer allgemeinen Judenverfolgung und der Deportation der Sowjetjuden nach Sibirien bilden sollte. Stalins Tod rettete sie. Die ältere Generation der Sowjetjuden hat diese furchtbaren Ereignisse nicht vergessen.
Schon 30 Jahre lang dauert die “antizionistische” (oft unverhüllt antisemitische) Kampagne in den sowjetischen Massenmedien an. Jüngsten Angaben zufolge ist es seit 1977/78 keinem einzigen Juden gelungen, sich an der Moskauer Staatlichen Universität immatrikulieren zu lassen. Während 1968/69 111.900 Sowjetjuden an höheren Lehranstalten studieren durften, waren es 1979 nur noch 44.000. Ende der sechziger Jahre übten 11 Prozent der Sowjetjuden freie Berufe aus; heute sind es kaum fünf Prozent.
In der Sowjetunion ist es ein offenes Geheimnis, dass eine Parteidirektive höchster Instanz es verbietet, Juden in verantwortlichen Дmtern anzustellen. Dr. William Korey behauptete in einem unlängst in der Zeitschrift “Foreign Affairs” veröffentlichten Artikel, diese Diskriminierung beziehe sich sogar auf Halbjuden. In diesem Zusammenhang spricht Dr. Korey von einer neuen “Nürnberger Variante”. Manche authentische Berichte aus der UdSSR scheinen Dr. Korey recht zu geben.
Wladimir Begun, einer der aktivsten Antisemiten der Sowjetpresse, hat vor einigen Jahren in einem vertraulichen Gespräch mit einem jüdischen Refusenik gesagt: “Ich glaube nicht, dass sich das Problem der Sowjetjuden durch Assimilation lösen lässt. Sowieso bleibt an jedem Juden etwas Jüdisches haften. Hierbei hilft keine Assimilation”. Auf die Frage, wie die Sowjetjuden sich verhalten sollten, erwiderte Begun: “Ich kann euch nur raten, euch möglichst still zu verhalten. Ihr dürft kein Aufsehen erregen”.

L.K.

[Aufbau Jul. 10, 1981. p.14]

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