Eine Hetzkampagne mit Bumerangwirkung

Warum Sowjetbotschafter Abrossimow Paris verliess

In Amerika und Westeuropa kennt man meist nur die Namen derjenigen sowjetischen Regimekritiker, die entweder mit ausländischen Korrespondenten Kontakte unterhalten oder gegen die Gerichtsverfahren schweben. Es gibt Tausende von Fällen, in denen Sowjetbürger sich dem Kreml mit grossem Mut widersetzen, von denen aber die freie Welt nichts erfährt, weil die in der UdSSR akkreditierten Korrespondenten amerikanischer oder westeuropäischer Blätter oft keinerlei Informationen über diese Vorgänge erhalten. Zuweilen erscheinen sie westlichen Berichterstattern irrelevant oder nicht sensationell genug. So ist z.B. der Name des heute in Kanada lebenden Sowjetemigranten Grigorij Swirsky nur einigen wenigen Gelehrten bekannt, die sich mit Slawistik befassen. Auch ist die politische Tätigkeit des Schriftstellers Swirsky vor und nach seiner Auswanderung nur wenigen im Westen vertraut. Seine Anklagereden in mehreren Plenarsitzungen des Moskauer Schriftstellerverbands (1965,1968) waren aber nicht nur sensationell, sondern zeugten auch von der enormen Zivilcourage dieses Mannes.
In den fünfziger Jahren, als Swirsky seinen ersten Roman “Der Lenin-Prospekt” veröffentlichte, konnte ihn nur ein Wunder vor einem längeren Aufenthalt” im Gulag-Reich retten. Die Parteiinstanzen beabsichtigten erst, gegen der Autor — wegen “Diffamierung der Sowjetwirklichkeit — gerichtlich vorzugehen, stellten dann aber das Verfahren ein, als einflussreiche Sowjetschriftsteller sich für den jungen Autor, einen ehemaligen Frontsoldaten, einsetzten.
1965 hielt Grigorij Swirsky eine geradezu denkwürdige Rede auf der Jahrestagung des Moskauer Schriftstellerverbandes. Sie wandte sich in der Hauptsache gegen die Willkür der Sowjetzensur (der Text dieser Rede ist im sechsten Band der gesammelten Werke des Nobelpreisträgers Alexander Solschenitsyn angeführt). Swirsky sagte u.a., die Sowjetzensur ist lediglich dazu bestimmt, wichtige militärische und staatliche Interessen zu schützen, jedoch nicht den literarischen Prozess zu bestimmen. Die ständige Einmischung der Zensur in die literarische Arbeit der Sowjetschriftsteller habe jetzt “eine Rekordhöhe menschlicher Dummheit erreicht”. Mit diesen Erklärungen war Swirskys literarische Karriere in der UdSSR besiegelt. Seine Bücher wurden nicht mehr veröffentlicht, doch nahm die Parteileitung des Schriftstellerverbandes damals noch davon Abstand, Swirsky aus der Partei und dem Schriftstellerverband der Sowjet union auszustossen.
Ihren Höhepunkt erreichte Swirskys Regimekritik im Jahr 1968. Auf einer der Sitzungen der Jahrestagung des Moskauer Schriftstellerverbandes prangerte er in Anwesenheit hochgestellter Parteibonzen (Mitglieder des sowjetischen Zentralkomitees) den staatlich geförderten Antisemitismus in der UdSSR an. Viele Moskauer Intellektuelle hielten Swirsky für einen Don Quichotte, der gegen Windmühlen ankämpft. Tatsache aber bleibt, dass Swirsky der erste war, der es in Anwesenheit von Parteigewaltigen wagte, öffentlich über den Sowjetantisemitismus zu sprechen und sein wahres Wesen ins Licht zu stellen. Bis damals wurde über diese Dinge nur geflüstert: nach jener Rede wurde Grigorij Swirsky aus der Partei ausgeschlossen.
In den folgenden Jahren schrieb er seinen Roman “Die Geisel”. In diesem Werk schildert Swirsky in künstlerischer Form die faktische Diskriminierung, der die Sowjetjuden ausgesetzt sind. Einen bedeutenden Platz nehmen im Roman die eigenen Erlebnisse des Autors sowie die traurigen Erfahrungen seiner Angehörigen ein. Dem Autor gelang es, das Manuskript ins westliche Ausland zu schaffen. 1974 erschien die russische Originalfassung in Paris. Bald darauf folgte die englische, französische und hebräische Übersetzung.
1972 wanderte Swirsky mit seiner Familie nach Israel aus. Doch auch im Exil setzte er den Kampf gegen die sowietische Spielart des Antisemitismus fort. Im Herbst 1972 spielte er eine entscheidende Rolle bei einem gegen die Pariser Sowjetbotschaft geführten Prozess. Die Botschaft hatte in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift “Die UdSSR” einen antisemitischen Hetzartikel veröffentlicht, der geradezu an die Machwerke Julius Streichers erinnerte. Wie Swirsky unlängst in einem, dem in New York erscheinenden russischsprachigen Emigrantenblatt “Nowy Amerikanez” (New American) gewährten Interview erklärte, hatten die Sowjets ganze Absätze ihres Hetzartikels — Wort für Wort — einer antisemitischen Publikation des zaristischen Russlands entnommen. Die Internationale Liga zur Bekämpfung des Antisemitismus erhob gegen die Sowjetbotschaft Klage vor einem Pariser Gericht. Als Zeugen waren u.a. der Hauptrabbiner Frankreichs. Kaplan. Nobelpreisträger René Cassin und Grigonj Swirsky vorgeladen.
Die Zeugen konnten ohne weiteres den antisemitischen Geist des Artikels der Botschaftszeitschrift erkennen und beurteilen. Aber nur Swirsky war imstande, den Beweis zu erbringen, dass der sowjetische Verfasser der antisemitischen Schrift einen erheblichen Teil des Textes einem 1906 (also 11 Jahr vor der bolschewistischen Oktoberrevolution) in Petersburg erschienenen Propagandaartikel der sogen. Schwarze Hundert der Erzantisemiten des zaristischen Russlands, entnommen hatte. Swirsky behauptet die damalige französische Regierung habe auf diskrete Weise dem Vorsitzenden des Gerichts nahegelegt, sein möglichstes zu tun, dieses Gerichtsverfahren nicht in einen politischen Prozess zu verwandeln Frankreich war nicht gewillt, des Artikels wegen seine guten Beziehungen zum Kreml zu verderben Doch die Tatsachen waren allzu evident. Als dem Zeugen Swirsky das Wort erteilt wurde, verglich er den Text vom Jahre 1906 und den der Botschaftszeitschrift. Die Übereinstimmung war verblüffend. Zum erstenmal war der sowjetische Staatsantisemitismus im Westen — noch dazu in einem Gerichtsverfahren — an den Pranger gestellt. Im Gerichtsurteil hiess es dann auch klipp und klar, der Artikel rufe zum Antisemitismus auf und säe nationale Zwietracht. Sowjetbotschafter Abrossimow verliess Paris kurz vor Verlesung des Gerichtsurteils und kehrte nicht mehr nach Frankreich zurück.
Zurzeit lebt Grigorij Swirsky in Kanada. Mehrere Semester lang hielt er an einer der Universitäten Torontos Vorlesungen über russische Literatur. Vor kurzem hat er ein fundamentales Werk über die Sowjetliteratur der Nachkriegsjahre (1946-1976) veröffentlicht (“A History of Post-War Soviet Writing: The Moral Opposition”). Ausser der in England erschienenen russischen Originalfassung und der in den USA veröffentlichten englischen Übersetzung wird auch noch eine Übertragung des Werkes ins Französische vorbereitet.
Swirskys im Westen veröffentlichte Werke gelangen auf Umwegen in die Sowjetunion. Unlängst ausgewanderte sowjetjüdische Intellektuelle berichten über den Erfolg Swirskys in seinem Heimatland. Trotz der Bemühungen des KGB, die Stimmen der Exilschriftsteller zu unterdrücken, sind zahllose sowjetische Leser (hauptsächlich in Moskau, Leningrad und in anderen Grosstädten) mit den jüngsten Werken ihrer ehemaligen Landsleute wohlvertraut.

L.K.

[Aufbau Oct. 23, 1981. p.8]

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