Sowjetmathematik: fast “judenrein”

Während Stalins “Säuberungsaktionen” 1937-1938 hat die Sowjetmathematik in bedeutend geringerem Mass Schaden erlitten als andere Wissenszweige. Sowjetischen Mathematikern wurde längere Zeit grössere wissenschaftliche Freiheit gewährt als deren Kollegen auf dem Gebiet der humanitären Wissenschaften, der Biologie und der Physik (während der stalinschen Diktatur wurde in den vierziger Jahren Albert Einsteins Relativitätstheorie als “idealistisch” verfemt; Wieners Informationstheorie und die moderne Genetik galten damals als “reaktionäre Pseudowissenschaften”). Dank ihrer relativen Denk- und Publikationsfreiheit gelang es den sowjetischen Mathematikern, international anerkannte Erfolge zu erzielen.
Vor dem Krieg wurden sowjetjüdische Mathematiker nicht diskriminiert. Der wissenschaftliche Beitrag von Juden zu dem Triumph der Sowjetmathematik war ausserordentlich gross. Zahlreiche sowjetjüdische Theoretiker waren Bahnbrecher auf verschiedenen Wissensgebieten der Mathematik.
Schon Ende der vierziger Jahre und in den fünfziger Jahren offenbarte sich eine von den höchsten Parteiinstanzen sanktionierte antisemitische Politik (insbesondere in der Ukraine) auch auf dem Gebiet der Mathematik. Ende der vierziger Jahre wurden hervorragende Mathematiker jüdischer Abstammung ihres Amtes enthoben (allein am Kiewer Mathematik Institut wurden z.B. Korenblum, Krasnoselsky, M. Krein und S. Krein abgebaut). Während der Chruschtschew-Periode verbesserte sich die Lage. In den sechziger Jahren (zu Beginn der Breschnjew-Ära) verdüsterte sich die Situation von neuem. Professoren, Akademiemitglieder, Chefredakteure mathematischer Fachzeitschriften waren aktiv darum bemüht, die inoffiziellen, jedoch unbestreitbar existierenden Parteidirektiven, die Sowjetmathematik judenrein zu machen, in die Tat umzusetzen. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Sowjetantisemiten ihr Ziel schon fast erreicht. In der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gibt es zurzeit unter Mathematikern nur ein einziges jüdisches Vollmitglied ‹ Nobelpreisträger Leonid Kantorowitsch. Sogar Israel Gelfand, ein Mathematiker von Weltruf, ist nur korrespondierendes Mitglied der Akademie.
Sowjetjüdische Abiturienten, die aus den alljährlich im Landesmasstab veranstalteten Mathematik-Olympiaden als Sieger hervorgegangen sind, werden zu den Aufnahmeprüfungen der Moskauer, Leningrader und anderer Universitäten entweder überhaupt nicht zugelassen oder bei den Prüfungen schonungslos und planmässig eliminiert. In der Sowjetunion gibt es für sowjetjüdische Wettbewerber besondere Listen mathematischer Aufgaben, deren Lösung nicht nur Genialität, sondern bedeutend mehr Zeit als die den Prüflingen zur Verfügung stehenden 20 Minuten erfordert.
Der nach Gorki verbannte Nobelpreisträger und Menschenrechtler Andrej Sacharow versuchte, eine dieser jüdischen Prüflingen vorgelegten mathematischen Aufgaben zu lösen. Er wurde zwar damit fertig, brauchte aber hierfür mehr als eine Stunde und wandte eine äusserst originelle Methode an. Er löste die Aufgabe in aller Ruhe — bei sich zu Hause. Sacharow zufolge werden derartig komplizierte Mathematikaufgaben nicht nur Juden sondern auch Dissidenten oder deren Kindern sowie anderen politisch “unzuverlässigen Elementen” vorgelegt.
Heutzutage ist es für sowjetjüdische Mathematiker so gut wie unmöglich, zu promovieren. Eine wissenschaftliche Dissertation muss in der UdSSR in drei Instanzen gutgeheissen werden: I) vor der Verteidigung — auf einer Fakultätssitzung; 2) während der Verteidigung — auf dem sogen. Gelehrtenrat einer Universität oder bestimmter wissenschaftlicher Institute; 3) die Promotion muss von einer ministeriellen Expertenkommission (VAK) bestätigt werden. Heute werden Juden in 99 Proz. der Fälle überhaupt nicht zugelassen, ihre Dissertation an einer höheren Lehranstalt zu verteidigen. Früher gab es noch einen Ausweg — in manchen Provinzstädten gab es weniger Hürden zu Überwinden (die antisemitischen Parteidirektiven waren — als inoffizielle Richtlinien — vorerst an die grösseren Universitäten des Landes ergangen). Um diese Lücke zu schliessen, ist die Zahl der wissenschaftlichen Institutionen, die eine Doktor- oder Kandidatenwürde verleihen dürfen, beträchtlich eingeschränkt worden (der sowjetische “Kandidaten”-Grad entspricht etwa dem amerikanischen PhD: die Anforderungen, die in der UdSSR an die Erlangung der Doktorwürde gestellt werden, sind höher als die diesbezüglichen Kriterien für westliche Doktoranden).
Ende der sechziger Jahre nahmen die gegen jüdische Mathematiker gerichteten Schwierigkeiten seitens der Expertenkommission ihren Anfang. Wenn es ein Jude auch fertigbrachte, an einer Universität zu promovieren, wurde die Promotion auf “höchster Ebene” (nämlich im Rahmen der VAK-Kommission) angefochten. Die Dissertation wird in solchen Fällen politisch “verlässlichen” Experten zur Einsicht gegeben. Auf einer der Kommissionssitzungen berichtet dann der “Sachverständige” über die “Mängel” der Forschungsarbeit. Auf diese Weise wurden Doktordissertationen begabter jüdischer Mathematiker (z.B. Belitzky, Winberg, Markus, Schmuljan u.a.) abgelehnt. Die sowjetische theoretische Fachzeitschrift “Matematitscheskij Sbornik”, deren Chefredakteur Prof. Pontrjagin ist, enthält heute fast keine Beiträge von Autoren mit jüdischen Namen.
In Moskau ist das Zentrale Mathematik-Institut (Steklow-Institut) zurzeit völlig judenrein. Direktor des Instituts ist seit dessen Gründung im Jahr 1934 Akademiemitglied Iwan Winogradow, ein genialer Mathematiker und gleichzeitig ein erbitterter Antisemit (Genialität schliesst nicht immer Antisemitismus aus). Unter seiner Leitung ist das Steklow-Institut völlig “russifiziert” worden. Unter 140 Mathematikern, die am Institut tätig sind, gab es in den letzten Jahren nur einen einzigen Juden — Mark Naiman (1978 verstorben). Seit 1978 ist also diese zentrale wissenschaftliche Institution der UdSSR endlich judenrein.
Infolge erwähnter antijüdischer Massnahmen beträgt heutzutage der Anteil der Sowjetjuden auf dem Gebiet der Mathematik nur 1 Prozent. Im zaristischen Russland erreichte der für Juden bestimmte Numerus clausus 3 Prozent. Die antisemitischen Tendenzen auf dem Gebiet der Mathematik (wie selbstverständlich auch in anderen Wissenszweigen der UdSSR) haben dazu geführt, dass zahlreiche sowjetjüdische Mathematiker ausgewandert sind. Heute unterrichten manche von ihnen an bekannten US-Universitäten (Harvard, Yale, Columbia, Cornell u.a.).
Von grösstem Interesse ist eine 1978 in sowjetischen Samisdat (Untergrundliteratur) erschienene Schrift von Prof. Grigorij Freiman. Unter dem Titel “It seems I am a Jew” ist die englische Übersetzung von Freimans Buch 1980 in den USA erschienen.
Freiman war bis vor kurzem Universitätsprofessor in Kalinin. Nach Veröffentlichung seines Buches in den USA wurde er entlassen. Sein Auswanderungsantrag wurde von den Sowjetbehörden abgelehnt. Freiman ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Werke und Abhandlungen auf dem Gebiet der Zahlentheorie. Grigorij Freiman wurde 1926 geboren. Im Alter von 17 Jahren nahm er an den Schlachten des Zweiten Weltkriegs teil. 1965 erlangte er die Doktorwürde. Freiman war noch bis vor kurzem Mitglied der KPdSU. Dennoch hatte er den Mut, seine Schrift über die Situation der jüdischen Mathematiker in der SamisdatZeitschrift “Die Juden der UdSSR” (Jewrji SSSR) zu veröffentlichen.
Freimans Buch enthält eine Menge Tatsachen und authentische Berichte, die die Situation der sojwetjüdischen Akademiker (vor allem die der Mathematiker) umreissen. Das Buch ist ein erschütterndes menschliches Dokument. Dank der Objektivität und Informiertheit des Verfassers gelingt es ihm, westlichen Lesern, die entweder primitive, mit dem historischen “Städtl” assoziierte Vorstellungen vom Sowjetantisemitismus haben, oder mit der Situation nur vom Hörensagen bekannt sind, die wahre Lage vor Augen zu führen.

L.K.

[Aufbau Oct. 30, 1981. p.6]