Der Kreml mistraut Sowjet-Mohammedanern

In einer Rede vor dem 22. Parteikongress der Turkmenischen Sowjet-Republik erklärte M. Gapurow, Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei dieser asiatischen Sowjet-Republik, dass “sich die imperialistische Propaganda die grosste Mühe gibt, die moralisch-politischen Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft zu erschüttern und einen religiös-nationalen Fanatismus zu entfachen”. “Unsere Feinde,” sagte Gapurow, “setzen jetzt ihre Hoffnung auf die Intensivierung ideologischer Spaltungen. Besondere Aufmerksamkeit widmet die imperialistische Propaganda unseren mittel-asiatischen Republiken, wo sie die mohammedanischen Gläubigen gegen die Sowjetmacht aufzuhetzen sucht”.
Die Zeitung “Komsomolez Turkmenistana” (“Der turkmenische Jungkommunist”) führte unlängst mehrere Beispiele für westliche “ideologische Zersetzungspropaganda” an. Sie berichtet in diesem Zusammenhang, dass im Sakar-Tschginsk-Bezirk der Republik “illegal agierenden Predigern des Islams das Handwerk gelegt wurde”. Ferner wird auf “die schädliche Wirkung” der Tätigkeit des 24jährigen Jungkommunisten Sch. hingewiesen. Ihm wird vorgeworfen, islamische Liedertexte verbreitet zu haben. Ähnliche Vorfälle seien — laut Meldung des turkmenischen Blattes — in Bairam-Ali und anderen Gegenden Turkmeniens beobachtet worden. Das Blatt behauptet, dass auf zahlreichen Lehrer- und Jungkommunisten-Versammlungen “die gefährlichen Aktivitäten solcher hinterhaltiger Scheiche” lahmgelegt worden seien.
Die Zeitung verzichtet natürlich darauf, den Text der beanstandeten islamischen Lieder zu veröffentlichen Es handle sich, so wird versichert, um “schamlose Propaganda, die sich eines religiösen Deckmantels bedient”. “Unsere Klassenfeind,” heisst es weiter, “bemühen sich, den Glauben an unsere kommunistischen Ideale zu untergraben. Dabei versuchen sie, unsere Schwierigkeiten und temporären Mangel auszunutzen”. Die Zeitung der turkmenischen Jungkommunisten halt es für falsch und gefährlich, die “Tätigkeit der gegnerischen Ideologie auf die leichte Schulter zu nehmen”. Man müsse sich der potentiellen Wirkung der feindlichen, religiös gefärbten Propaganda auf “unreife Elemente, insbesondere auf Jugendliche” bewusst sein.
Unlängst erschien im Moskauer Verlag “Snanije” (“Wissen”) eine “Kritik der Verfälschung islamischer Grundsätze und der Lage der Mohammedaner in der UdSSR” betitelte Broschüre. N. Aschirow und H. Ismailow, die Verfasser dieser Propagandaschrift, erklären im Vorwort, das Ziel der Publikation bestehe darin, “die im Westen verbreiteten Lugen über die Lage der Mohammedaner in der Sowjetunion endgültig zu widerlegen”. Den Verfassern der Broschüre zufolge werden im Westen besonders “boshafte Lügen und Gerüchte” bezüglich der Ereignisse in Afghanistan in Umlauf gesetzt. Demgegenüber versucht die Broschüre den Leser davon zu überzeugen, dass es in der Sowjetrepublik völlige religiöse Freiheit gebe. “Mohammedanern wird die gleiche Religionsfreiheit gewahrt wie allen anderen Sowjetbürgern. Niemand wird in unserem Land seines Glaubens wegen verfolgt”, heisst es in dieser kürzlich veröffentlichten Schritt
Die Autoren versuchen, die “Falschmeldungen der antisowjetischen Presseorgane” zu entlarven. In diesem Zusammenhang wenden sie sich gegen die Behauptung der pakistanischen Zeitung “Dshang”, der zufolge der Koran in der Sowjetunion nicht erhältlich sei. Aschirow und Ismailow weisen darauf hin, dass es im Lauf der letzten 25 Jahre sechs Ausgaben des Korans in der UdSSR gegeben habe. Die Verfasser verschweigen jedoch, dass die Gesamtzahl der in der UdSSR herausgegebenen Exemplare des Korans verschwindend klein war. Das gleiche gilt für die Publikation der Bibel (des Alten und des Neuen Testaments) in der Sowjetunion. In Moskau ist es möglich, auf dem Schwarzmarkt eine aus dem westlichen Ausland eingeschmuggelte Bibel für etwa 100 Rubel (125 Dollar) zu kaufen; wer aber bei einer solchen Transaktion von der Polizei ertappt wird, kann sich die grössten Unannehmlichkeiten zuziehen (zuweilen kommt es sogar zu Verhaftung und Freiheitsentzug). Sowohl die Bibel als auch der Koran stehen den offiziell sanktionierten christlichen, mosaischen und islamischen geistlichen Würdeträgern zur Verfügung. Im offiziellen Buchhandel sind aber weder Bibel noch Koran oder Gebetbucher jeglicher Konfession erhältlich.
In der Sowjetunion gibt es 50-60 Millionen Mohammedaner. Bei einer Gesamtbevölkerung von 260 Millionen sind das etwa 20 Prozent. Die Verfasser der Streitschrift unternehmen den wenig glücklichen Versuch, diese unumstössliche Tatsache in Abrede zu stellen. So heisst es in der erwähnten Broschüre: “Unsere Feinde übertreiben die Zahl der mohammedanischen Bevölkerung in der UdSSR. Die faktische Zahl der in der UdSSR lebenden Mohammedaner ist um etwa 10 Millionen niedriger, als im Ausland behauptet wird”. Somit geben die Sowjets zu, dass es in der UdSSR mindestens 40-50 Millionen gläubige Mohammedaner gibt. Nach 60jähriger atheistischer Propaganda ist das eine dem Kreml wenig schmeichelhafte Statistik.
Die Publikation der dem Islam gewidmeten Schritt beleuchtet die schweren Befürchtungen der sowjetischen Ideologen angesichts der Ereignisse in Afghanistan und im Iran. So heisst es unter anderem in der Broschüre: “Sobald sich unseren Feinden die Gelegenheit bietet, benutzen sie die Ereignisse in Afghanistan und im Iran dazu, um den in der UdSSR real existierenden Sozialismus zu verleumden und religiös-nationalistische Hassgefühle gewisser Kreise der Sowjetbevölkerung zu schüren. Die Ideologen des Imperialismus und die dunklen Kräfte der Reaktion rechnen mit der Möglichkeit, unter den Mohammedanern der UdSSR Zwietracht und Hass zu säen”.
Die sowjetische Propaganda zeigt, in welchem Mass die UdSSR-Ideologen die Einwirkung des Islams auf die Mohammedaner in ihren Grenzen fürchten. L.K.

[Aufbau, Jul. 23, 1982. p.6]

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