Yuri Andropow und die Sowjet Juden

Die neue Ära im Kreml, die durch die Wahl Yuri Andropows, des ehemaligen Chefs des sowjetischen Sicherheitsdienstes, des KGB, zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) eingeleitet wurde, wird sich zweifellos auf dem Gebiet der Innen- und Aussenpolitik abzeichnen. Obwohl die in westlichen Diplomatenkreisen zuweilen geäusserte Ansicht, Andropow sei ein verkappter “Liberaler”, völlig aus der Luft gegriffen ist, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass sich die Denk- und Handlungsweise des neuen Generalsekretärs der KPdSU durch Pragmatismus und Realitätssinn kennzeichnen lasse. Es lässt sich vermuten, dass Andropow und seine Gefolgsleute in der Sowjetführung (wie z.B. Gaidar Alijew, der am 22. November 1982 zum Vollmitglied des Politbüros gewählt wurde) sich im politischen Entscheidungsprozess weniger von marxistischen Dogmen als von nüchternen Gedankengängen leiten lassen werden. Wie könnte sich Andropows Pragmatismus auf das Schicksal der sowjetischen Judenheit auswirken?
Bei Überlegungen über die künftigen Judenpolitik der neuen Moskauer Führung darf nicht ausser acht gelassen werden, dass es der KGB und dessen ehemaliger Chef — Yuri Andropow — waren, unter deren unmittelbarer Kontrolle sich die sowjetjüdische Auswanderungsbewegung der letzten 10-12 Jahre vollzog. Andropows Ziel war es dabei, zu verhüten, dass die sogen. Familienzusammenführung sich zu einer nicht nur dem Namen nach freien Emigrationsbewegung entwickele. Als oberster KGB-Chef während der letzten 15 Jahre (erst im Mai 1982 gab er sein Amt als Leiter des sowjetischen Sicherheitsdienstes auf) brachte Yuri Andropow es zuwege, jeden von einem Sowjetjuden vorliegenden Auswanderungsantrag zu einer Art Glückspiel zu machen. Die totale Unberechenbarkeit der behördlichen Entscheidung machte (und macht) das Auswanderungsbemühen jedes Sowjetjuden zu einem höchst riskanten Unterfangen. Es wäre jedoch verfehlt, die vom KGB angewandte Taktik als Ausfluss des sowjetischen Antisemitismus zu betrachten, denn auswanderungswilligen Sowjetdeutschen und Armeniern erging es in dieser Beziehung keineswegs besser.
Etwa 270.000 Sowjetjuden sind vor dem Wagnis nicht zurückgeschreckt und leben heute in Israel, in den USA, Kanada oder anderen westlichen Ländern. Andropows Taktik, die Auswanderung aus der UdSSR so schwierig und riskant wie möglich zu machen, hat zahlreiche Opfer gefordert: etwa 10.000 Refuseniks, von denen manche die ersehnte Auswanderung schon seit 10 Jahren versuchen, ist das Ausreisevisum unter verschiedenen Vorwänden endgültig verweigert worden. Um die Auswanderungsbewegung unter die Kontrolle der KGB zu bringen, bedient Andropow sich der zahllosen ihm verfügbaren Mittel, wie Einschüchterung und Verfolgung auswanderungswilliger Juden, Unterbindung von Auslandskontakten der Antragsteller und schliesslich auch Internierung sowjetjüdischer Aktivisten — wobei jedoch erwähnt werden muss, dass auch eine Reihe von sowjetdeutschen Auswanderungsaktivisten verhaftet und zu längerem Freiheitsentzug verurteilt wurde.
Besonders tragisch ist das Schicksal des sowjetjüdischen Dissidenten und Aktivisten Anatolij Schtscharansky, der des Landesverrats angeklagt und zu einer dreizehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die Sowjets beschuldigten Schtscharansky, im Dienst der CIA gestanden zu haben.
Präsident Carter erklärte seinerzeit auf einer Pressekonferenz, dass Schtscharansky zu keiner Zeit für den CIA gearbeitet habe. Der Schtscharansky-Prozess wurde zu einem amerikanisch-sowjetischen Testfall. Faktisch war Anatolij Schtscharanskys Verurteilung nicht so sehr gegen ihn als gegen Jimmy Carters Kampagne zur Wahrung der Menschenrechte gerichtet. Schtscharanskys Kontakte mit westlichen Korrespondenten machten ihn zum Sündenbock. Obwohl Carters Menschenrechtskampagne manche Schlappen erlitt, ist es ihr zum Teil zuzuschreiben, dass 1979 — ein Jahr nach dem Schtscharansky-Prozess — 51.000 Sowjetjuden (eine Rekordhöhe!) emigrieren konnten. Als Pragmatiker ist Andropow flexibel genug, die lahmliegende sowjetjüdische Auswanderung gegebenenfalls wieder anzukurbeln. Selbstverständlich ist das Klima der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auch für die jüdische Auswanderungsbewegung ausschlaggebend. Zurzeit ist die Emigration der Sowjetjuden auf ein Mindestmass beschränkt (im November 1982 durften nur 137 Juden das Land verlassen). Die von Ronald Reagan befürwortete “stille Diplomatie” hat sich bisher bezüglich der Sowjetunion als erfolglos erwiesen. Zu bedauern ist, dass es der Regierung Reagan bisher nicht gelungen ist, eine eigenständige konsequente Menschenrechtspolitik zu entwikkeln. Dabei geht es nicht nur darum, dass das Weisse Haus die Menschenrechtssituation in sogenannten “freundschaftlichen” Ländern Lateinamerikas faktisch ignoriert, sondern auch darum, dass Washington es seit Jahren systematisch vermieden hat, sich für langjährige Refuseniks und inhaftierte sowjetjüdische Aktivisten öffentlich einzusetzen.
In diesem Zusammenhang fragt es sich, ob es nicht ratsam wäre, im engsten Einvernehmen mit dem US-Kongress einen direkten Kontakt zwischen Vertretern massgebender amerikanisch-jüdischer Organisationen und der neuen Sowjetführung anzustreben. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Sowjets die Wirksamkeit der “amerikanisch-jüdischen Lobby” hoch einschätzen. Schon aus diesem Grund darf angenommen werden, dass Andropow amerikanische Senatoren und Abgeordnete des Repräsentantenhauses sowie Vertreter amerikanisch-jüdischer Organisationen ohne weiteres empfangen würde und schon darin die Möglichkeit bestünde, dass auf dem Verhandlungswege zu realen Erfolgen zu gelangen (Freilassung sowjetjüdischer Gewissenshäftlinge, Ankurbelung der 1975 in Helsinki vorgesehenen Familienzusammenführung und anderes). Auch die Gewährleistung eines elementaren jüdischen Kulturlebens in der UdSSR (wie es z.B. in Ungarn der Fall ist) könnte im Zug künftiger Verhandlungen erörtert werden. Der Versuch auf diesem Weg zu erträglicheren Lebensbedingungen für das sowjetische Judentum zu gelangen, wäre daher sicher der Mühe wert.

L.K.

[Aufbau Jan. 28, 1983. p.3]

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