Konstantin Tschernenko, der neue Boss im Kreml

Erst vier Tage nach Yuri Andropows Tod wurde am 13. Februar der 72jährige Konstantin Tschernenko vom Zentralkomitee der KPdSU zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt. Andropow benötigte nach Breschnjews Hinscheiden nur 24 Stunden, um an die Spitze der Partei zu gelangen. Als ehemaliger KGB-Chef war er imstande, potentielle Rivalen kaltzustellen und seine eigene Position zu festigen. Völlig anders war die Machtkonstellation vor wenigen Tagen im Kreml.
Dem vorige Woche verstorbenen sowjetischen Partei- und Staatschef war es — ungeachtet seiner Krankheit und monatelangen Abwesenheit — gelungen, bei allen wichtigen Personalentscheidungen ihm ergebene Leute in die höchsten politischen Machtgremien einzubeziehen. Der Bestand des Politbüros hat sich in den letzten 15 Monaten wesentlich geändert. Mehrere Andropow-Vertraute avancierten zur Vollmitgliedschaft im Politbüro. Gerade damit lässt sich wohl erklären, dass der Breschnjew-Intimus Tschernenko erst am Vortag des feierlichen Begräbnisses seines Vorgängers zum Parteichef gewählt wurde. Es ist anzunehmen, dass ein erbitterter Machtkampf im Politbüro der Wahl des Generalsekretärs vorausging.
Konstantin Tschernenko begann seine Parteikarriere im Krasnojarsk-Gebiet (Sibirien). 1948 wurde er in die Moldawische Sowjetrepublik versetzt. Leonid Breschnjews Ernennung zum Parteisekretär Moldawiens (1950) war ein glücklicher Zufall in Tschernenkos Leben. Seit seiner Bekanntschaft mit Breschnjew war Tschernenkos Parteilaufbahn gesichert. Breschnjew begünstigte den um fünf Jahre Jüngeren und übertrug ihm wichtigste Parteiämter.
Als Breschnjew 1956 in hoher Parteifunktion nach Moskau berufen wurde, folgte ihm Tschernenko in die sowjetische Hauptstadt. Dank seines einflussreichen Freundes wurde Tschernenko zum Chef der Abteilung für Agitation und Propaganda am Zentralkomitee der KPdSU ernannt. Der Breschjew-Favorit hat eine Blitzkarriere gemacht. 1977 wurde er zum Politbüro-Kandidaten gewählt, ein Jahr danach war er schon Vollmitglied des Politbüros.
Nach Breschnjews Tod schien Tschernenkos politische Existenz gefährdet zu sein. Doch passte er sich rasch der neuentstandenen Situation an. Er war es, der Andropow für den hohen Posten des Generalsekretärs der Partei empfahl.
Unter Andropow leitete Tschernenko als Sektretär des Zentralkomitees die “ideologische und massenpolitische Arbeit”. Vor dem ZK-Plenum, das Mitte 1983 stattfand, gab Konstantin Tschernenko einen Bericht ab zu Fragen der Sowjetideologie. Tschernenkos Referat erinnerte fast an Andrej Shdanow, Stalins “Kulturexperten”. Obwohl Tschernenko keinen Namen nannte, attackierte er “religiöse Extremisten”, auf die der imperialistische Gegner setze; “Musikgruppen, die ideologischen und ästhetischen Schaden anrichten”; “schwankende und nörgelnde Gestalten” auf dem Bildschirm und in der Literatur. Tschernenko forderte eine sozialistische Aufbaukunst, deren Pathos an die vierziger Jahre erinnerte. “Wir benötigen herausragende Schilderungen der Helden der Planjahrfünfte”.
Tschernenko verschonte nicht einmal die Tätigkeit des Instituts für soziologische Forschungen und des Zentralen Wirtschaftsmathematischen Instituts. Diese beiden wissenschaftlichen Stätten sammeln Daten, enthalten sich aber jeglicher sozialpolitischer Empfehlungen. Soll Tschernenkos ideologische Offensive eine Rückkehr zur Stalinschen Verschönerung oder gar Verschweigung der Tatsachen bedeuten?

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       Wie war es möglich, dass Andropows ehemaliger Rivale zu seinem Nachfolger wurde? In diesem Zusammenhang sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Vor allem ging es darum, vor der Aussenwelt die “Einheit der Partei” zu demonstrieren und den Verdacht eines im Kreml ausgetragenen Machtkampfes zu zerstreuen.
Seit den zwanziger Jahren ist es in der Sowjetunion zur Tradition geworden, dass zum Generalsekretär der Partei nur diejenigen Funktionäre gewählt werden können, die gleichzeitig Vollmitglieder der Politbüros und Sekretäre des Zentralkomitees sind. Somit kamen nach Andropows Tod nur drei Kandidaten in Frage: Tschernenko, Romanow (61) und Gorbatschow (52). Die Kreml-Greise trugen den Sieg davon. Gorbatschow und Romanow waren für den Posten des Parteichefs zu “jung”.
Andropows Kampf gegen Korruption und “Untergrund-Wirtschaft” hat in den Kreisen der Sowjetelite (der sog. “Nomenklatur”) böses Blut gemacht. Unter Breschnjew waren Angehörige der Sowjetelite tabu, auch wenn sie Schmiergelder akzeptierten oder anderer korrupter Handlungen verdächtig waren. Tschernenkos Wahl zum Generalsekretär der Partei soll wohl zur Wiederherstellung der zu Lebzeiten Breschnjews herrschenden Zustände beitragen. Die auf ihre Privilegien und Villen bedachte Parteibürokratie betrachtet Tschernenko als einen Verbündeten.
Innenpolitisch bedeutet Tschernenkos Aufstieg eine Rückkehr zur straffen, zentralistisch ausgerichteten Planwirtschaft. Versuche einer Wirtschaftsreform wird es in den kommenden Jahren wohl kaum geben. Weder Liberalisierung, noch Lockerung der Repressalien gegen Andersdenkende lassen sich von der neuen sojwetischen Parteiführung erwarten. Die Macht des KGB wird nicht geschwächt, jedoch unter Parteikontrolle gestellt werden. Angehörige der Sowjetelite werden weniger zu befürchten haben.
Das Verhältnis zu Washington dürfte sich in den nächsten Monaten kaum ändern. Tschernenko und seine Genossen werden Ronald Reagan nicht behilflich sein, auf eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Die Forderungen des Militärs werden von Tschernenko voll und ganz berücksichtigt werden.
Die optimistischen Erwartungen seitens des State Department, denen zufolge Tschernenko eine neue Kompromissbereitschaft den USA gegenüber offenbaren werde, sind auf Sand gebaut. Tschernenko sprach in seiner Rede nach seiner Wahl zum Parteichef am 13. Februar über die “abenteuerlichen Aktionen der aggressiven Kräfte des Imperialismus”. Die Sowjetführung strebe nicht nach militärischer Überlegenheit, würde sich aber jeglichen Versuchen widersetzen, das bestehende Gleichgewicht zu stören. Es ist keineswegs sicher, dass der Machtkampf im Kreml endgültig abgeschlossen ist. Er könnte in den nächsten Monaten oder Jahren erneut aufflackern. Konstantin Tschernenko ist womöglich nur eine Übergangserscheinung.

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Die Ära Andropow dauerte nur 15 Monate und ist somit die kürzeste Amtsperiode eines Sowjetführers. Am 9. Februar starb Yuri Andropow, Parteichef und Präsident der Sowjetunion. Seit dem 16. August 1983 war Andropow nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen. Allein die Tatsache, dass er weder der Parade zum 66. Jahrestag der Oktoberrevolution, noch dem DezemberPlenum des Zentralkomitees beiwohnte, zeugte von der lebensgefährlichen Krankheit des Kreml-Bosses.
Als Yuri Andropow am 11. November 1982 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt wurde, sagten viele westliche Kremlbeobachter bedeutsame Wandlungen voraus. Im Westen wurden Wirtschaftsreformen und Dezentralisierungsversuche prognostiziert. Auf aussenpolitischem Gebiet wurden zu Beginn der Ära Andropow sensationelle Ereignisse erwartet: Moskau würde einen Ausweg aus der Sackgasse finden, in die es durch den fast aussichtslosen Krieg in Afghanistan geraten ist; ferner hoffte man, Andropow würde den Bau der SS-20 einstellen.
All diese Voraussagen haben sich nicht bewahrheitet; nicht nur wegen des frühzeitigen Todes Yuri Andropows. In den neun Monaten, da es ihm sein Gesundheitszustand noch ermöglichte, die sowjetische Innen- und Aussenpolitik zu leiten, wurde bald deutlich, dass Andropow keineswegs bereit war, Wirtschaftsreformen durchzuführen und Flexibilität in der Aussenpolitik zu zeigen.
Auf wirtschaftlichem Gebiet beschränkte sich Andropow auf ein vorsichtiges Experiment in einzelnen Zweigen der Sowjetindustrie. Eine Lockerung der starren Industrieplanung wurde angestrebt. Ferner sagte er der Korruption und der ständig wachsenden “Untergrund-Wirtschaft” den Kampf an. Es kam zu Verhaftungen in den Reihen der Sowjetelite, und in Einzelfällen wurde sogar die Todesstrafe verhängt.
Andropows Kampf gegen die mangelnde Arbeitsdisziplin der sowjetischen Werktätigen einerseits und die gegen die Korruption gerichteten Massnahmen andererseits vermochten nicht, die Stagnation der Sowjetwirtschaft zu beeinträchtigen und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und elementarsten Konsumgütern zu verbessern. Nur eine kühne Wirtschaftsreform hätte eine Wende bringen können.
Bei Andropows Wahl zum Generalsekretär der Partei war die Befürwortung seiner Kandidatur durch die Militärs von grösster Bedeutung. Selbstverständlich wurde Andropows Aussenpolitik von den Interessen der Generalität mitbestimmt. Deshalb wird der Krieg in Afghanistan — ungeachtet eines beträchtlichen Prestigeverlusts der UdSSR — fortgesetzt.
Präsident Reagans Politik eines neuen Kalten Krieges hat freilich die Position der sowjetischen Militärs weiterhin gestärkt. Andropow, der auf die Unterstützung durch die Militärs angewiesen war, liess sich von deren Belangen leiten. Deshalb wurde der Bau der SS-20 nicht nur nicht eingestellt, sondern sogar erweitert.
R. Herzenberg

[Aufbau Feb. 17, 1984. p.1f.]

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