Wissenschaftliche Forschung in der Sowjetunion

Die Parteibürokraten haben das Sagen

Der 43jährige Gelehrte Valerij Godjak wurde Anfang 1984 von den Sowjetbehörden gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er stand vor der Alternative, verhaftet und zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt zu werden oder auszuwandern. Godjak war am Lehrstuhl für Elektronik an der Moskauer Universität tätig. Worin bestand das Vergehen dieses Wissenschaftlers? Er war Mitglied einer Gruppe sowjetischer Intellektueller, die sich für Kooperation beider Supermächte einsetzt.
“Unsere Gruppe war keine politische Organisation”, sagte Godjak in einem Interview mit dem in Paris erscheinenden russischsprachigen Exilblatt “La Pensée Russe”. “Wir haben nur mehrere Manifeste in der Untergrundpresse herausgegeben”. Der heute in den Vereinigten Staaten ansässige Godjak wies ferner darauf hin, dass die “Gruppe der Herstellung des Vertrauens zwischen den USA und der UdSSR” sowjetische Intellektuelle vereinigte, die sich der Gefahr der verhängnisvollen atomaren Abschreckungstheorie bewusst seien und sich deshalb für die unmittelbare Aufnahme von Abrüstungsgesprachen zwischen den beiden Supermächten einsetzten. Die beiderseitige Anhäufung von Massenvernichtungswaffen könne zu einem dritten Weltkrieg — unabhängig von den Intentionen der regierenden Kreise in Moskau und Washington — führen, meinen Valerij Godjak und seine Gesinnungsgenossen (diese kleine Gruppe sowjetischer Intellektueller existiert faktisch nicht mehr — die einen wurden ins westliche Ausland abgeschoben, die anderen verhaftet).
Während der letzten zehn Jahre war Godjak an der Moskauer Universität tätig. Vordem war er Mitarbeiter des Leningrader Forschungsinstituts für elektrophysikalische Apparatur.
Godjaks Meinung nach lassen sich die theoretischen Arbeiten der sowjetischen Gelehrten ihrem theoretischen Niveau nach durchaus mit den theoretischen Errungenschaften des Westens vergleichen. Im Rückstand gegenüber dem Westen sind die Sowjets in experimenteller Hinsicht.
“In unserer Abteilung waren 60-70 Gelehrte tätig. Manche von ihnen sind erstklassige Wissenschaftler. Zu ihrer Verfügung stehen nur zwei bis drei Techniker und einige Laboranten. Als Folge dieser Absurdität muss häufig rein technische Arbeit von den Forschern selbst verrichtet werden. Ich war Leiter einer Forschungsgruppe, musste aber eine Menge Zeit damit vergeuden, die veraltete Apparatur zu reparieren”, konstatiert Godjak.
Westliche Appartur gelangt nicht in die Universitäten. Diese für harte Dollar oder andere westliche Währungseinheiten erworbenen Gerate werden entweder den Armeelabors oder den Zentren der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zur Verfügung gestellt.
Sowjetforscher veröffentlichen bedeutend weniger theoretische Arbeiten als ihre westlichen Kollegen. Godjaks Ansicht nach erscheinen im gleichen Zeitabschnitt zwei- bis dreimal mehr Berichte über Laborergebnisse amerikanischer oder britischer Forscher als entsprechende Arbeiten sowjetischer Gelehrter.
Auf die Frage, wie es um die Qualifikation jüngerer Sowjetphysiker bestellt ist, antwortete der Exmoskauer: “Leider ist das Niveau der jungen Physikergeneration unseres Landes — im Vergleich zu deren alteren Kollegen — niedriger. Hinzu kommt, dass deren wissenschaftliche Qualifikation in ständigem Sinken begriffen ist. Das habe ich in Moskau und in Leningrad beobachtet, nehme aber an, dass die Situation an den Universitäten und wissenschaftlichen Forschungsinstituten in anderen Sowjetstädten nicht besser ist”.
Womit lasst sich das erklären? Jeder Universitätsprofessor ist selbstverständlich daran interessiert seine begabtesten Schüler bei sich zu behalten. Auf die Meinung der Professoren wird aber keine Rucksicht genommen. Die Frage, wer an der Universität weiterarbeiten darf, wird vom KGB (dem sowjetischen Sicherheitsdienst) entschieden. Ein für wissenschaftliche Tätigkeit unqualifizierter Funktionär wird häufig einem parteilosen Forscher gegenüber bevorzugt. In den letzten Jahren ist das wissenschaftliche Niveau — Godjaks Ansicht nach — besonders stark gesunken.
Zurzeit bemühen sich die begabtesten Sowjetphysiker darum, wissenschaftliche Forschungsinstitute zu verlassen und an den Universitäten oder an den Instituten der Akademie der Wissenschaften tätig zu sein. Obwohl es auch hier meist am Nötigsten fehlt, ist die Situation an den Forschungsinstituten, die der Akademie nicht angehören, noch trostloser. Wissenschaftliche Ideen interessieren dort niemanden. Es darf nicht experimentiert werden. Worauf es in den Tausenden in der UdSSR vorhandenen Forschungsinstituten ankommt, ist die Planerfüllung.
Als Valerij Godjak am Leningrader Institut für elektrophysikalische Apparatur tätig war, schlug die von ihm geleitete Gruppe die Erarbeitung von Hochspannungsbeschleunigern vor. Die Obrigkeit verbot dieses Forschungsprojekt und erklärte den Gelehrten, dass sie — dem Plan gemäss — ein veraltetes Modell entwickeln sollten.
Eine besonders negative Rolle spielt bei der wissenschaftlichen Entwicklung in der UdSSR die Tendenz, soviel wie möglich, in der ganzen westlichen Welt längst bekannte Leistungen als “Geheimarbeit” zu klassifizieren. Dem betreffenden Gelehrten wird dann der Zutritt zu “geheimer Dokumentation” erteilt. Auf diese Weise gelingt es dem KGB, seine Kontrolle noch mehr zu festigen und jeden freiheitlichen Gedanken zu unterdrücken. “Geheime Forschungsinstitute” sind eine Sinekure für Stümper und Appartschiks, die ihre Karriere auf dem Gebiet der Wissenschaft machen wollen. Für jeden begabten Forscher ist der sog. Zutritt zu Geheimmaterial eine kaum erträgliche Belastung.
Valerij Godjak zufolge sind die Sowjets auf die Technologie des Westens angewiesen. Das gilt hauptsächlich für die Rüstungindustrie. Der Abbruch der wissenschaftlichen Kontakte mit den USA — nach der Invasion Afghanistans durch die Sowjetarmee — wirkt sich auf die Entwicklung der Sowjetindustrie im allgemeinen und die der Rüstungsindustrie im besonderen hindernd aus.
Dr. Godjak äusserte im Verlauf des Interviews durchaus konstruktive Gedanken zur sowjetisch-amerikanischen Kooperation. Er wertet den Abbruch der kulturellen Kontakte zwischen den beiden Supermächten als negative Erscheinung. Gegenseitiger Besuch anlasslich wissenschaftlicher Kongresse und Symposien ist an und für sich zu begrüssen, weil solche Kontakte dem Frieden dienen. Falls aber bekannt ist, dass die sowjetischen Delegationsmitglieder im Auftrag des KGB stehen, Antisemiten sind und ihre Kollegen (wie z.B. Andrej Sacharow) zu verfolgen suchen, ist es ratsam, diesen “Forschern” kein Einreisevisum zu gewähren. Anderseits gibt es ausgezeichnete, mutige Sowjetforscher, die an westlichen Kontakten aufrichtig interessiert sind. Solche Leute solle man nicht vor den Kopf stossen.
Valerij Godjak appelliert an den Westen, sowjetische Gelehrte differenziert zu behandeln. Man kann ihm nur Recht geben. L.K.

[Aufbau Aug. 10, 1984. p.7]

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