Georgij Arbatow — Sohn jüdischer Eltern als Amerika-Experte des Kremls

Georgij Arbatow, Direktor des Moskauer Amerika-Instituts, wurde 1923 in der ukrainischen Stadt Cherson geboren. Heute gilt Arbatow, Sohn jüdischer Eltern, offiziell als Russe. Bis 1969 war in seinem internen Sowjetpass als Nationalität “Jude” eingetragen.
Im zaristischen Russland liessen sich einige besonders um ihre Karriere bemühten Juden taufen und galten danach als Russen. In der Sowjetunion gibt es nicht nur Zehntausende Auswanderungswillige, sondern auch solche Juden, die — um im Partei- und Staatsapparat vorwärtskommen zu können — durch gute Beziehungen zu Polizei- und Parteibehörden es fertigbringen, einen neuen Pass zu erhalten, in welchem sie als Russen vermerkt sind (die Sowjets betrachten das Judentum nicht als Religion, sondern als Nationalität).
Mit Arbatows Ansichten wird in Moskauer Führungskreisen gerechnet. Für die Gestaltung der sowjetischen US-Politik sind Arbatows Ratschläge nicht minder massgebend als die des Moskauer Botschafters in Washington, Anatolij Dobrynin. In dem von Radio Liberty 1984 in München herausgegebenen Biographic Directory of 100 Leading Soviet Officials ist auch Arbatow aufgeführt. Er gehört zum Kern der höchsten sowjetischen Parteinomenklatur.
Wie verlief die Laufbahn dieses zweifellos begabten “Exjuden”, der es vermochte, in der Sowjetunion eine aussenpolitische Schlüsselposition zu erringen?
Im Zweiten Weltkrieg war Arbatow Offizier einer Artillerie-Einheit. Während der Jahre 1944-1949 studierte er Geschichte des 20. Jahrhunderts am Moskauer Institut für internationale Beziehungen. 1966 wird ihm der Doktortitel verliehen. Ein Jahr danach wird er zum Direktor des US-Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ernannt. Anfang der siebziger Jahre werden Georgij Arbatow die höchtsten akademischen Ehren zuteil; 1974 wird er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt.
Arbatow begriff, dass es einem Juden in der sowjetischen Nachkriegszeit nur unter zwei Bedingungen gelingen könnte, eine Schlüsselposition in der Kreml-Hierarchie zu erlangen: 1) er musste Anerkennung in den höchsten Parteigremien finden; 2) früher oder später musste er sich als “Russe” ausweisen.
Schon in den fünfziger Jahren verfasste Arbatow zahlreiche ideologisch ausgerichtete Artikel, die in den Moskauer Zeitschriften Kommunist, Voprossy filosofii (Probleme der Philosophie) u.a. veröffentlicht werden. 19601962 ist Arbatow politischer Beobachter an der in Prag erscheinenden Zeitschrift Prohlemy mira i sozialisma (Probleme des Friedens und Sozialismus). Mitte der sechziger Jahre nimmt er verantwortliche Posten im Apparat des Zentralkomitees der KPdSU ein (u.a. ist er Chef der US-Sektion der Abteilung für internationale Fragen).
Seit vier Jahren ist Arbatow Vollmitglied des Zentralkomitees der KPdSU. Nach wie vor ist er Leiter des Moskauer Instituts für Studien der USA und Kanadas. Die vom Institut herausgegebene Zeitschrift enthält oft — im Unterschied zu anderen sowjetischen Publikationen — Beiträge, die keineswegs als reine Propaganda anzusehen sind. Die von Arbatow und dessen Mitarbeitern redigierte Zeitschrift enthält zahlreiche durchaus informative Artikel über verschiedene politische Aspekte der Vereinigten Staaten und Kanadas.
Arbatow unternimmt fast jedes Jahr Reisen nach Amerika. US-Fernsehteilnehmer erblicken ihn von Zeit zu Zeit auf dem Bildschirm (im Rahmen der Brinkley-Show oder des MacNeil-Lehrer-Programms). Arbatows Artikel erscheinen zuweilen in den grössten amerikanischen Tageszeitungen.
Arbatows Einfluss stieg unter Breschnjew, Andropow und ist auch heute — unter Konstantin Tschernenko — bei Gestaltung der sowjetischen US-Politik von massgebender Bedeutung. Arbatow steht in engem Kontakt mit Andrej Gromyko, dem sowjetischen Aussenminister.
Nach der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten 1980 veröffentlichte Georgij Arbatow ein Buch über sowjetisch-amerikanische Beziehungen, in dem er sich für die Fortsetzung der Detente einsetzte. Arbatow hat in seinen zahlreichen Publikationen Carters Menschenrechtskampagne und Reagans Aufrüstungsprogramm aufs schärfste kritisiert.
Arbatow ist Kreml-Berater nicht nur für Fragen sowjetisch-amerikanischer Beziehungen, sondern informiert die Sowjetführung auch über den Stand der amerikanisch-chinesischen Beziehungen und über die politisch-strategische Situation im nordatlantischen Bündnis
Arbatows Gattin Swetlana ist Journalistin. Sein Sohn Alexej hat seine Doktor-Dissertation der US-Rüstungspolitik der Nachkriegsperiode gewidmet 1972-1973 war Alexej Arbatow an der sowjetischen UNMission tätig.

L.K.

[Aufbau Jan. 25, 1985. p.2]

INDEX   SCAN