Refuseniks greifen zu musikalischen Mitteln

Juden und NichtJuden kämpfen um Auswanderung — Konzerte mit politischer Botschaft

Dieser Tage ist in Tbilisi, der Hauptstadt der Grusinischen Sowjetrepublik, ein eigenartiges Musikensemble gegründet worden. Die Mitglieder des Ensembles sind jüdische und nichtjüdische Refuseniks. Die Gruppe konzertiert in verschiedenen Privatwohnungen, und zwar am letzten Sonntag eines jeden Monats (oder anlässlich des Besuchs westlicher Gäste). Das Repertoire des Refusenik-Orchesters enthält nicht nur klassische Werke (Vivaldi, Mozart, Beethoven u.a.) sondern auch jüdische und grusinische Melodien sowie Beispiele des Rock und Jazz (z.B. Duke Ellington, John Lennon). Durch ihre musikalischen Darbietungen wollen die Refuseniks und deren Freunde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Ost und West auf das Schicksal der Polithäftlinge und Dissidenten in der UdSSR lenken.
In der Hauptstadt Grusiens, wo bis auf den heutigen Tag relative (national-georgische) Unabhängigkeit von Moskau zu spüren ist. werden die Refuseniks weniger verfolgt als in anderen Städten und Republiken der UdSSR.
Das musikalische Niveau des Ensembles ist — laut Berichten westlicher Korrespondenten — erstaunlich hoch. Roman Sinman spielt Erste Geige im Grusinischen Philharmonischen Orchester, früher wirkte er an der Philharmonie von Dnjepropetrowsk, einer ukrainischen Industriestadt. Als er sich jedoch vor sechs Jahren um die Auswanderung nach Israel bewarb, wurde er fristlos entlassen. Die Sowjetbeamten rieten ihm, umzusatteln und Buchbinder zu werden. Sinman wollte aber seine musikalische Tätigkeit nicht aufgeben. Der hochtalentierte Geiger siedelte nach Tbilisi um, wo er bei der städtischen Philharmonie Anstellung fand. Sinman nimmt an sämtlichen Konzerten des Ensembles teil.
Der Dirigent des Orchesters ist Isai Goldstein. Auch sein Bruder Grigorij ist Mitglied des Refusenik-Orchesters. Die beiden Goldsteins sind seit 1972 Refuseniks. Im Westen haben sich einflussreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für die Auswanderung der Brüder eingesetzt. Der Moskauer KGB hält jedoch unerbittlich an dem Beschluss fest, die beiden Computer-Ingenieure nicht auswandern zu lassen. Ihnen seien angeblich “Staats-Geheimnisse” bekannt. Grigorij Goldstein war vor mehreren Jahren des “Müssiggangs” angeklagt. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren eingeleitet, und er wurde zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er sass seine Straffrist im Fernen Norden (Archangelsk) ab. Grigorijs “Müssiggang” ergab sich aus der Tatsache, dass er sich weigerte, eine Arbeit zu akzeptieren, deren Voraussetzung Zutritt zu “Geheimdokumenten” war.
Zurzeit sind die beiden Goldsteins als Computer-Fachleute am Grusinischen Ministerium für Nahrungsmittelindustrie tätig. In ihrer Freizeit musizieren sie.
Teilnehmer des Refuseniks-Orchesters sind nicht nur Juden. Genghiz und Eduard Gulava sind grusinische Nationalisten. Beide haben schon mehrere Jahre im Gulag verbracht. Jetzt haben sie einzig den Wunsch, aus der Sowjetunion auszuwandern. Den beiden Gulavas droht die Gefahr, wegen “Müssiggangs” verurteilt zu werden. Ihre Auswanderungsaussichten sind noch geringer als die ihrer jüdischen Freunde.
Genghiz spielt Gitarre, und Eduard werden Gesangspartien anvertraut.
Ungewöhnlich ist das Schicksal von Enrico Tualadse, dem Sohn einer belgischen Mutter und eines grusinischen Vaters. Heute ist er zum Judaismus übergetreten und nennt sich Emanuel. Seinen Übertritt zum Judentum motiviert er damit, dass er in Gefängnissen und Arbeitslagern jüdischen Gewissenshäftlingen begegnet ist, deren sittliche Kraft ihn zutiefst beeindruckt hat.
Er wurde beim Versuch der Überschreitung der sowjetisch-polnischen Grenze in Haft genommen. Damals diente er in der Sowjetarmee. Sein wahnwitziger Versuch, nach Polen zu fliehen, lässt sich damit erklären, dass ein entfernter Verwandter seiner Mutter an der belgischen Botschaft der polnischen Hauptstadt einen leitenden Posten bekleidete. Anfangs wurde Enrico (Emanuel) in eine “Heilstätte für Geisteskranke”gebracht. Nach zweimonatigem Aufenthalt in dieser Institution wurde er vor Gericht gestellt und für schuldig befunden. Sein Vorgehen wurde als Hochverrat eingestuft. Tualadse wurde zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
“Wir glauben, dass der KGB auf unsere musikalische Tätigkeit früher oder später reagieren wird”, sagte Isai Goldstein. “Möglicherweise werden die Sicherheitsorgane damit beginnen, diejenigen Orchestermitglieder einzuschüchtern, deren Auswanderungsgesuche bisher noch nicht abgelehnt worden sind. Wie dem auch sei, die Konzerte werden ihren Fortgang nehmen. Wir haben schon alles verloren. Darum schrekken wir vor nichts zurück”.
Zwei Korrespondenten, die den Weihnachts- und Neujahrskonzerten des multinationalen Ensembles beigewohnt haben, berichten, dass die Musiker nach Beendigung des Konzerts Plakate vorgezeigt haben. Auf einem dieser Plakate stand geschrieben: “Jeder hat das Recht, sein eigenes Land zu verlassen und wieder heimzukehren”. Unter den Klängen von John Lennons Bekenntnislied “Imagine” verliessen die westlichen Gäste die Wohnung, wo das ungewöhnliche Konzert stattgefunden hatte.

L.K.

[Aufbau Feb. 01, 1985. p.9]

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