Eine neue Mär vom alten Meer

R.B.  Es gab einige Ähnlichkeiten zwischen den in der Vorwoche vom Philadelphia Orchestra und von den New Yorker Philharmonikern gebotenen Konzerten; beiden standen unter der Leitung eines aus Berlin gebürtigen Dirigenten, an beiden wirkte solistisch ein aus der Sowjetunion stammender Pianist (beziehungsweise eine Pianistin) mit, in beiden waren Kompositionen über das Thema Meer zu hören, in beiden (zur Vervollkommnung einer ausgewogenen Vortragsfolge) fehlte auch nicht eine Sinfonie. Dass sich auch Gegensätzliches feststellen liess, war selbstverständlich; es betraf künstlerische Leistungsunterschiede, die das an den zwei Abenden gewonnene Gesamtbild jedoch nur wenig beeinträchtigten, und es liess sich auch auf die Dauer der Veranstaltungen beziehen, deren eine die Norm beträchtlich überschritt.
Doch wurde man dafür mit etwas Neuem entschädigt: Christoph von Dohnänyi und die Philharmoniker brachten Manfred Trojahns vor zwei Jahren geschaffenes Opus “Erstes Seebild” zur Erstaufführung, und der bisher in Amerika nicht zu Wort gekommene Komponist (1949 in Cremlingen bei Braunschweig geboren) konnte für diese Arbeit vollen und redlich verdienten Erfolg buchen. “Es ist der erste Teil eines inzwischen von mir fertiggestellten fünfteiligen Werks für grosses Orchester und Mezzosopranstimme, das — ‘Fünf Seebilder’ betitelt — im Herbst 1984 in Hamburg uraufgeführt werden wird”, sagte mir Trojahn nach Konzertschluss im Künstlerzimmer.
Was hat den seit 1977 in Paris lebenden und, wie er zugibt, wesentlich vom Musikschaffen Elgars, Delius’, Sibelius’, Brittens, vornehmlich jedoch des Schweden Gustaf Allan Pettersson (1911-1980) beeinflussten Deutschen zur Komposition dieser “Seebilder” veranlasst? Keineswegs war er durch Nachahmungsgelüste motiviert, das Meer erneut im Stil solcher Vorbilder zu besingen; aber dass er den Natur- und Klangreichtum der See einer neuen Auslotung unterzieht, lässt vermuten, dass er diesen Reichtum für unerschöpflich erachtet und für wert, in der Tonsprache unserer Zeit festgehalten zu werden, in der ‘Angst’ ein nicht nur dem Seemann vertrauter Daseinsbegriff ist. Was sich während 25 Minuten auf diesem Ostseebild abzeichnet, sind nicht nur Schrecken und Gefahren, nicht nur Sturm und hoher Wellengang: auch von stiller Schönheit, von Ruhe, Hoffnung und Vertrauen ist die Rede, von einem Frieden, der in zarten, opalisierenden Farben am Horizont einer vielleicht besseren Menschheitszukunft aufschimmert.
Trojahn hat für die dem “Ersten Seebild” folgenden Teile Texte Georg Heyms, eines der bedeutendsten Lyriker des Frühexpressionismus, gewählt, “Gedichte, in denen die verträumte Landschaft ebenso formvollendet eingefangen ist wie in den vielleicht bekannteren über die Einsamkeit des Menschen der drohende Verfall, den Heym vorgeahnt, aber nicht miterlebt hat, da er als 25jähriger zusammen mit einem Freund beim Eislauf auf der Havel ertrunken war.”
Dohnänyi spielte die Rolle eines Avant-garde-Offiziers mit dem von ihm erwarteten Engagement für musikalisch Neues und zugleich Gutes. Noch grössere Freude konnte man an der hinreissenden, von Geist blitzenden Lesung der von Richard Strauss nach alter Schelmenweise in Rondoform erzählten Tondichtung “Till Eulenspiegels lustige Streiche” haben. Das Programm ergänzten eine solide Aufführung von Beethovens achter Sinfonie und eine resolute, mitunter an Tschaikowsky gemahnende von Schumanns Konzert für Klavier und Orchester — mit Bella Davidowitsch als einer sich dem Orchester gleichberechtigt fühlenden Solistin.
Brahms steht weiterhin heuer, 150 Jahre nach seiner Geburt, hoch im Kurs. Wladimir Ashkenazy und das von André Previn mit sicherer Hand geleitete Philadelphia Orchestra ernteten für eine alle Klangwerte und ‘Stimmungen’ vollendet erfassende Aufführung des zweiten Konzerts für Klavier und Orchester stürmischen Beifall. Debussys “La mer” funkelte in allen Farben der impressionistisch-französischen Palette eines sein Seebild nur sanft mit dem Pinsel betupfenden Malers, der als Komponist Sternenjahre vor Trojahn gelebt haben mag, aber vom Glanz des Meeres auf eigene Art nicht weniger fasziniert gewesen war. Eine relativ wenig aufgeführte von Haydns sogenannten “Pariser Sinfonien”, die 87., 1785 entstanden, erwies sich als ein bekömmliches Aperitif vor der aus zwei bekömmlichen Hauptgängen bestehenden Orchestermusik-Mahlzeit.

[Aufbau Mar. 4, 1983. p.18]

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