Sowjetisch-chinesische Polemik dauert an

Das in mehreren Sprachen in Moskau erscheinende Wochenblatt “New Times” hat zu Beginn des Jahres einen längeren Artikel veröffentlicht, der die Forschungsergebnisse chinesischer Historiker und deren Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften der Volksrepublik China aufs schärfste angreift. Es handelt sich hierbei um historische Untersuchungen der russisch-chinesischen Beziehungen und des zwischen Moskau und Peking bestehenden Grenzkonfliktes. Der “Was steckt dahinter?” betitelte Artikel des sowjetischen Blattes bezichtigt die chinesischen Historiker der “Geschichtsverfälschung” und erklärt, der von ihnen erneut vertretene, angebliche “Anspruch” Pekings auf sowjetisches Gebiet unterminiere die Bemühungen um Normalisierung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Hierbei betont der sowjetische Autor (in der Zeitschrift zeichnet er als “Beobachter”) den “aufrichtigen Wunsch der UdSSR”, die Beziehungen mit China zu verbessern.
Ende Januar d.J. reagierte die aussenpolitisch orientierte chinesische Zeitschrift “Shijie Zhishi” auf die Moskauer Vorwürfe. Unter anderem heisst es da: “Letzten Endes ist es ein zweckloses Unterfangen, objektive historische Tatsachen falsch auszulegen oder zu leugnen. Die Geschichte der chinesisch-russischen Beziehungen — einschliesslich der Grenzfrage — war stets ein Forschungs- und Diskussionsthema der chinesischen Historiker. Unsere Wissenschaftler sind nicht nur dazu berufen, sondern sie haben das volle Recht, die diesen Vorgängen zugrunde liegenden Tatsachen objektiv und wissenschaftlich zu prüfen und zu klären.”
Die Sowjets nehmen in ihrem Grenzstreit mit Peking eine wenig beneidenswerte Position ein. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Zarenregierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schwäche Chinas dazu missbraucht hat, durch eine Reihe den Chinesen aufgezwungene Verträge annähernd 1,5 Mill. Quadratkilometer chinesischen Territoriums faktisch zu annektieren.
Mit Recht weist Peking schon seit mehr als 20 Jahren darauf hin, dass Marx, Engels und auch Lenin die gegen China gerichtete aggressive Politik des zaristischen Russlands verurteilt haben.
In dem in der Zeitschrift “Shijie Zhishi” veröffentlichten Artikel wird sogar eine Stelle aus dem 1961 in Moskau erschienenen “Wörterbuch der diplomatischen Beziehungen” zitiert, in dem der im 19. Jahrhundert in Peking unterzeichnete chinesisch-russische Vertrag als “rechtlich anfechtbar” bezeichnet wird.
Peking sieht in dem Artikel des sowjetischen aussenpolitischen Wochenblattes einen verwerflichen Versuch, die aggressive Politik des Zarenreiches China gegenüber zu verteidigen. Niemand habe das Recht, heisst es da polemisch, den chinesischen Historikern die Wahl ihrer Studienthemen zu beschränken oder gar vorzuschreiben. Ein solches Verhalten verletze die Ehre und Würde des Sowjetvolkes.
Die sowjetisch-chinesische Polemik über Grenzfragen und die “ungleichen Verträge” des 19. und (Anfang des) 20. Jahrhunderts ist zweifellos ein heikles Thema. Peking betont schon jahrelang, dass die Regierung der Volksrepublik China keinerlei territorialen Ansprüche an die Sowjetunion stelle. Gleichzeitig hebt Peking hervor, dass es die Rückgabe des ehemals chinesischen Gebiets, das durch die “ungleichen Verträge” dem Zarenreiche einverleibt wurde, nicht fordere. China sei nur an einer “theoretischen” Anerkennung historischer Tatsachen interessiert.
Schon deshalb schlage Peking eine allumfassende Lösung der Grenzfragen auf dem Wege friedlicher Verhandlungen, jedoch unter Berücksichtigung der China aufgezwungenen Verträge vor. Ein solcher Standpunkt entspräche sowohl den Interessen des sowjetischen als auch des chinesischen Volkes. Der Wunsch der Sowjets, die Beziehungen zu China zu normalisieren, sei durchaus begrüssenswert; jedoch sei die offene Unterstützung einer zaristischen. Machtpolitik mit dem von Moskau vorgeschlagenen Normalisierungsprozess unvereinbar.
Der Kreml scheut sich seinerseits, rein “theoretisch” zuzugeben, dass 1,5 Millionen Quadratkilometer ehemaligen chinesischen Territoriums heute einen ansehnlichen Teil des sowjetischen Fernen Ostens ausmachen. Der Kreml befürchtet offensichtlich, dass die “wisssenschaftlich-theoretische” Anerkennung historischer Tatsachen Peking veranlassen könnte, die Rückgabe des von den Russen rechtswidrig erworbenen Territoriums zu fordern.
In anderen Fragen sowjetischer Aussenpolitik verhält sich die chinesische Presse neutral und objektiv. Die englischsprachige Wochenzeitung “Beijing Review” befasst sich recht sachlich mit der jüngsten Reise des sowjetischen Aussenminsters Andrej Gromyko nach Bonn. In diesem Zusammenhang heisst es in dem Blatt: “Ende vergangenen Jahres liessen sich Meinungsunterschiede zwischen den Ländern Westeuropas und den Vereinigten Staaten über die Null-Lösung bei den Raketen-Abrüstungsverhandlungen in Genf beobachten. Moskau hielt die Situation für besonders geeignet, Zwietracht zwischen den NATO-Verbündeten zu säen und seine eigenen Positionen in Westeuropa zu stärken”.
Die chinesische Presse ist sichtlich bemüht, einen möglichst gleichen Abstand zu beiden Blöcken einzuhalten und gegenüber den komplizierten Beziehungen zwischen den beiden Supermächten eine betont kritische Haltung einzunehmen.

L.K.

[Aufbau Mar. 18, 1983. p.3]

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