Unterlegenheitskomplex prägt sowjetische Aussenpolitik
Für viele westliche Beobachter ist der Entscheidungsprozess im Kreml ein fast unlösbares Rätsel. Die Aussen- und Innenpolitik der UdSSR der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ist auf den ersten Blick durchaus widerspruchsvoll und scheint sich der logisch-wissenschaftlichen Erkenntnis zu entziehen.
Nur selten ist es möglich, solche Ereignisse wie z.B. die Invasion der Tschechoslowakei, die militärische Intervention in Afghanistan oder die durch den Kreml faktisch, erzwungene Verkündung des Kriegsrechts in Polen einerseits und die aktive Unterstützung der Ostpolitik durch Breschnjew und dessen Nachfolger Jurij Andropow sowie die erneuten Aufrufe des heutigen sowjetischen Parteichefs zur Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Entspannungspolitik andererseits auf einen Nenner bringen. Voller Widerspruch scheinen auch die brutale Unterdrückung jeglichen Dissenses in der UdSSR und die gleichzeitige Gewährung von Auswanderungsvisen an einige im Westen bekannte Schriftsteller und Regimekritiker (Wassilij Aksenjew, Wladimir Woinowitsch, Georgij Wladimow u.a.) zu sein.
Auch die Judenpolitik des Kremls offenbart scheinbare Paradoxe. Die antizionistischen (faktisch antisemitischen) Artikel, die tagtäglich in der Sowjetpresse veröffentlicht werden, waren in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren die schon traditionell gewordene “Begleitmusik” zu einem für Sowjetverhältnisse unerhörten Exodus jüdischer Bürger (in den siebziger Jahren durften auch Zehntausende Sowjetdeutsche und Armenier auswandern).
Bei der jüdischen Massenauswanderung war eine vom israelischen Aussenministerium bestätigte “Einladung” seitens oft fiktiver Verwandter Voraussetzung für Annahme der Papiere der Auswanderungswilligen. Bekanntlich ist die Emigration der Sowjetjuden — angesichts der drastischen Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen — zurzeit auf ein Minimum gesunken.
In den Vereinigten Staaten neigt der Durchschnittsbürger und der Intellektuelle gleichermassen dazu, bei der Analyse der Kreml-Politik von einem Extrem ins andere zu fallen. In den siebziger Jahren — zur Blütezeit der sogen. Détente — wurden beliebige (oft minimale) “Zugeständnisse” des Kremls als angebliche Beweise für faktisch nicht existente “Liberalisierungstendenzen” in den führenden Gremien der UdSSR betrachtet. Nur sehr wenige westliche Kremlinologen kamen damals auf den Gedanken, dass die “Zugeständnisse” Moskaus (Gewährung der “Familienzusammenführung”, Zwangsausweisung des Nobelpreisträgers Alexander Solschenitsyn, Gewährung von Ausreisevisen an zahlreiche nichtjüdische Regimekritiker u.dgl.) essentielle Bestandteile einer vom sowjetischen Politbüro initiierten allumfassenden WestPolitik waren.
Im Westen wurde vor etwa zehn Jahren unter Detente nicht nur Entspannung verstanden, sondern auch eine Annäherung zwischen Ost und West. Die sowjetischen Massenmedien sprechen meist von einer schon von Lenin konzipierten “friedlichen Koexistenz”. Zuweilen taucht in der Sowjetpresse der Terminus “internationale Entspannung” auf. Für die Sowjets (von Lenin bis zu Andropow) handelt es sich bei der “friedlichen Koexistenz” um einen rein taktischen Begriff. Vom sowjetischen Standpunkt aus ist die “friedliche Koexistenz” nur ein Mittel zur Erreichung langfristiger strategischer Ziele der Aussenpolitik des Kremls.
Bei Analyse der Ursachen, die die Kreml-Führung dazu bewogen haben, eine Entspannungspolitik zu betreiben, weisen die meisten westlichen Beobachter auf das Interesse der Sowjets an westlicher Technologie und Gewährung der benötigten Kredite hin. Selbstverständlich war und ist der Kreml gern bereit, unter vorteilhaften Bedingungen westliche Technologie zu erwerben. Moskau ist sich der kolossalen Schwierigkeiten bewusst, die sich aus der zentralistisch strukturierten Planwirtschaft ergeben. Faktisch hat die “friedliche Koexistenz” mit dem Westen die Sowjets in die Lage versetzt, politisch riskante Wirtschaftsreformen zu umgehen.
Doch die “Entspannungspolitik” (Détente) lässt sich seitens Moskaus nicht nur mit rein wirtschaftlichen Erwägungen erklären. Als der Kreml zu Beginn der siebziger Jahre einen Modus vivendi mit Washington suchte, liess er sich auch von strategischen Faktoren leiten. Es ist kein Zufall, dass die sowjetisch-amerikansiche Entspannungspolitik vor dem Hintergrund sich ständig verdüsternder Beziehungen zwischen der UdSSR und China ihren Anfang nahm. Jurij Andropow führt die Politik seines Vorgängers Leonid Breschnjew fort. Es handelt sich hierbei um den Versuch, den Westen im Fall eines militärischen Zusammenstosses mit der Volksrepublik China zu neutralisieren. Die gegenwärtigen sowjetisch-chinesischen Verhandlungen, die auf eine Normalisierung der Beziehungen beider kommunistischer Länder abzielen, scheinen nicht vom Fleck zu kommen.
China rückt von seinen drei Grundforderungen nicht ab (Abzug der Sowjettruppen aus Afghanistan, Verzicht auf politisch-militärische Unterstützung der vietnamesischen Grossmachtbestrebungen und Abbau der Sowjettruppen entlang der chinesischen Grenze). Laut jüngsten Berichten aus Peking betrachtet die chinesische Führung die sowjetische Militärpräsenz in Afghanistan und Indochina als unmittelbare Bedrohung der Sicherheit des “Reiches der Mitte”. Peking zufolge trachten die Sowjets danach, China einzukreisen.
Strategisches Hauptziel Moskaus ist nach wie vor, die Möglichkeit eines Zweifrontenkriegs zu verhindern. Nur unter Berücksichtigung dieser strategischen Konzeption lassen sich die so oft widerspruchsvoll scheinenden aussen- und innenpolitischen Aktionen der Sowjets begreifen.
Während zu Beginn der siebziger Jahre Washington dazu neigte, die Zugeständnisse des Kremls als Symptome einer angeblichen “Liberalisierung” zu betrachten, schlug die US-Politik unter Präsident Reagan in ein anderes Extrem um. Die atomare Bedrohung des Westens durch die UdSSR wurde zum Leitmotiv des Weissen Hauses. Natürlich haben die Sowjets mit ihrer Afghanistan- und Polen-Politik in beträchtlichem Mass zu der von Reagan und dessen Verteidigungsminister Caspar Weinberger entfachten antisowjetischen Hysterie beigetragen. Durch Reagans unbedachte Reden eines lokal begrenzten Atomkriegs, hat der Präsident den Sowjets kolossale psychologische Hilfe geleistet. Derartige Reden haben die Friedensbewegung in Westeuropa und in den USA ins Leben gerufen. Obwohl Reagan sämtliche Anhänger der Friedensbewegung mehrfach als Unterstützer einer vom Kreml inspirierten Verschwörung bezeichnet hat, lässt es sich kaum bestreiten, dass er es selber war, der Jurij Andropow unter die Arme gegriffen hat.
Seit Lenin sind die Sowjets stets darum bemüht, ihre Macht zu konsolidieren. Dem sowjetischen — psychologisch zwar verständlichen, weltpolitisch aber friedensgefährlichen — Unterlegenheitskomplex ist eine Rüstungsbeschleunigung auf allen Gebieten entsprungen. Die Aufrüstung mit der SS-20-Rakete ist — nach Helmut Schmidts treffender Bezeichnung — “zu einer politischen Pressionswaffe” geworden, die geeignet wäre, Europa und die Vereinigten Staaten in Krisensituationen voneinander zu trennen.
Die Angst vor einem Zweifrontenkrieg und der bestehende Unterlegenheitskomplex der Sowjetführung prägen in beträchtlichem Mass Moskaus globale Strategie. In dieser gefährlichen Situation verschärft gegenseitige Beschimpfung, die durch die Massenmedien gigantische Masstäbe annimmt, den Antagonismus zwischen Ost und West. Nicht Hysterie, sondern kaltes Blut und nüchterne politische Analyse der sowjetischen Intentionen sind heute besonders vonnöten.
L.K.
[Aufbau Jul. 1, 1983. p.7]