Staatsterror statt Wirtschaftsreform in der UdSSR

Wir hatten unlängst über Korruption und Untergrund Wirtschaft in der Sowjetunion berichtet (“Aufbau” vom 15. Juli 1983). In diesem Zusammenhang wurden auch die Ansichten des heute in Paris lebenden sowjetischen Dissidenten W. Sorokin erwähnt, nach dessen Erklärung der “linke Markt” (jegliche Erwerbstätigkeit, die unter Umgehung der staatlichen Gesetze vollzogen wird) gegenwärtig sämtliche Schichten der Sowjetgesellschaft erfasst — jedoch mit Ausnahme der Sowjetelite und der Sowjetdissidenten.
In einem in der Pariser Exilzeitschrift “Tribuna” erschienenen Artikel hebt Sorokin hervor, dass die Sowjetelite (die sog. Nomenklatur) keinen Nebenverdienst benötige, da ihr jeglicher Lebenskomfort unbegrenzt zur Verfügung stehe (westliche Konsumgüter, die in Spezialiaden zu spottbilligen Preisen erhältlich sind, ebenso wie Luxuswohnungen und Villen; kostenfreier Aufenthalt in den besten Kurorten des Landes; Westreisen im Rahmen von Delegationen oder Gruppen).
Die jüngsten Berichte aus Moskau widerlegen Sorokins Standpunkt. So meldete kürzlich die sowjetische Presseagentur TASS, dass Jurij Sokolow, ehemaliger Direktor der ältesten und besten Delikatessenhandlung in Moskau, wegen Korruption bzw. Annahme von Schmiergeldern und Missbrauchs seiner amtlichen Stellung zum Tode verurteilt wurde. Sein Stellvertreter I. Nemzow und die Abteilungsleiter W. Grigorjew, W. Jakowlew und H. Sweshinsky wurden zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt.
Sokolow wurde unmittelbar nach BreschnjewsTode im November 1982 verhaltet. Zu seinen Stammkunden gehörten die Breschnjew-Tochter Galina Tschurbanow, sowjetische Kosmonauten, höhere Beamte und zahlreiche Würdenträger.
Angeblich haben sich mehrere weltbekannte Kosmonauten für Jurij Sokolows Freilassung bzw. Strafmilderung vergeblich eingesetzt. Selbst Galina Tschurbanow, Tochter des einst mächtigsten Mannes der Sowjetunion, Gattin eines ehemaligen stellvertretenden Innenministers, konnte ihrem Günstling nicht helfen.
Innenminister Vitalis Fedortschuk und der stellvertretende Ministerpräsident der UdSSR Gaidar Alijew, ehemaliger KGB-Leiter in der Sowjetrepublik Aserbaidschan — sind fest entschlossen, mit eisernem Besen auszukehren und der sowjetischen Lotterwirtschaft ein baldiges Ende zu bereiten; doch muss bezweifelt werden, dass der Augiasstall der Sowjetwirtschaft sich mit Verhaftungen und Todesurteilen reinigen lassen wird.
Nicht weniger korrupt als Sokolow und seine bestechlichen Stellvertreter waren, sind die höchsten Repräsentanten der Sowjetelite, die sich mit Schmiergeldern in den Besitz von auserlesenen Speisen und Weinen für ihre üppigen Gastmähler zu setzen verstehen und die sich nicht damit begnügen wollen, sich mit dem abzufinden, was ihnen in den eigens für sie geschaffenen “geschlossenen” Lebensmittelhandlungen geboten wird. Diese Geschäfte, die die sowjetischen Werktätigen nicht betreten dürfen, führen allerlei Leckerbissen, schwarzen Kaviar jedoch nur in begrenzten Mengen. Zuweilen ist französischer Cognac in den für die Elite bestimmten Sonderhandlungen Mangelware. Sie muss sich dann eben mit armenischem Cognac begnügen, der übrigens auch von höchster Qualität ist.
Jurij Sokolow ist nur einer in der Unzahl von Sowjetbürgern, die Schmiergelder annehmen. Für Andropow und seine engsten Mitarbeiter ist das kein Geheimnis. Hätte Jurij Sokolow den Wünschen der sowjeti- schen Oberschicht nicht entsprochen, so hatte er nicht nur sein einträgliches Amt und seine Privilegien verloren (sein Sohn studierte in Cambridge, England), sondern wäre möglicherweise auch verhaftet worden.
Dass er “jetzt zum Tode verurteilt wurde, soll als Warnung für andere Missetäter dienen und ist eine Massnahme gegen die ständig wachsende Schwarzwirtschaft in der UdSSR.
In Ungarn, wo Janos Kadar eine wirksame Wirtschaftsreform durchgeführt hat und marktwirtschaftliche Elemente duldet, ist das “linke Arbeits-System” zu einem hohlen Begriff geworden, weil es faktisch nicht mehr existiert. Der Staat ist und bleibt zwar Eigentümer der zahlreichen Hotels, Restaurants, Tankstellen, Reparaturwerkstätten u.a.m., die reprivatisiert worden sind, aber er verpachtet oder vermietet diese ihm gehörenden Wirtschaftsobjekte. Damit ist es Kadar gelungen, die ehemalige ungarische Untergrundwirtschaft in den Dienst des Staates zu stellen. Die Förderung der Privatinitiative kommt dem Fiskus zugute und steigert zudem Kadars Popularität.
Anders stellt sich die Situation in der UdSSR dar: Da Andropow und seine KGB-Adlaten offensichtlich nicht gewillt sind, Dezentralisierungs- und Reformversuche zu wagen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Korruption durch staatliche Terrormassnahmen zu bekämpfen. Mit Gewaltmassnahmen lässt sich die Wirtschaftslage jedoch nicht wesentlich ändern. Hunderttausende Apparatschiks werden immer Mittel und Wege finden, ihren bisherigen Lebensstil zu erhalten. Alkoholismus, Laxheit, Disziplinlosigkeit am Arbeitsplatz, Arbeitsunlust, das alles wird weiterhin dem Sowjetstaat Milliarden von Rubeln kosten; sowjetische Hausfrauen werden weiter stundenlang nach Brot, Kartoffeln, Butter und anderen Grundnahrungsmitteln Schlange stehen. Dazu kommt, dass beides, Breschnjews Tod und das verschärfte Tempo der atomaren Aufrüstung, zu einer Verlagerung des aussen- und innenpolitischen Schwerpunkts in der Sowjetunion geführt haben: nicht die Kommunistische Partei ist es jetzt, die den Ton angibt, sondern das Sagen haben gegenwärtig in erster Linie die Militärs und der KGB. Für Wirtschaftsexperimente, die das Alltagslos der Sowjetbürger vielleicht erleichtern könnten (wie etwa Kadars Ungarn), bleibt da wenig Raum.

L.K.

[Aufbau. Dec. 16, 1983. p.6]

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