Elitäres Einzelgängertum statt Massenbewegung
Probleme der sowjetischen Dissidentenbewegung
Im Vergleich mit den sechziger und siebziger Jahren ist heute die innenpolitische Situation der UdSSR noch düsterer und trostloser geworden. Seit Anfang Mai dieses Jahres, als Nobelpreisträger Andrej Sacharow in Hungerstreik trat, um auf diesem Wege ein Ausreisevisum für seine Gattin Jelena Bonner zu erzwingen, ist im Westen nur wenig über das Schicksal des Dissidentenpaares bekannt. Den Westen erreichen nur einzelne Gerüchte, denen zufolge Andrej Sacharow vom Moskauer Psychiater Prof. Roshnow hypnotisiert werde (Ziel dieser psychiatrischen “Behandlung” besteht wohl darin, Sacharow zu einem gefügigen Werkzeug der Sowjetpropaganda zu machen). Jelena Bonner stehe angeblich ein Gerichtsprozess bevor, in dessen Verlauf ihr “antisowjetische Propaganda und Agitation” zur Last gelegt werden sollen.
Dem KGB ist es heute gelungen, die sowjetische Dissidentenbewegung faktisch zu vernichten. Die aktivsten Regimekritiker wurden entweder verhaftet oder ins Ausland abgeschoben. Auf diese Weise wurden sie neutralisiert und “unschädlich” gemacht. Das bedeutet aber keineswegs, dass es in der UdSSR früher oder später nicht wieder zu einer neuen Widerstandsbewegung kommen könnte.
In diesem Zusammenhang ist ein Artikel des seit 1973 in New York lebenden russischen Exilphilosophen Boris Schragin von besonderem Interesse. In Heft 3 der in Paris erscheinenden russischsprachigen Zeitschrift “Tribuna” (Tribüne) befasst sich Schragin mit den Ursachen, die zur Niederlage der sowjetischen Dissidentenbewegung geführt haben.
Der aus Moskau stammende Schragin weist mit Recht darauf hin, dass die Tätigkeit der Sowjetdissidenten nicht mit der Unterstützung der Landesbevölkerung rechnen konnte. Es handelt sich um eine elitäre Bewegung sowjetischer Intellektueller, die an einer Kooperation mit den Arbeitern des Landes keineswegs interessiert sind. Die Tragödie der sowjetischen Dissidentenbewegung sieht Schragin darin, dass kein Dialog mit dem eigenen Volk gesucht wurde. Statt dessen bemühten sich die Moskauer und Leningrader Andersdenkenden um Aufnahme von Kontakten mit westlichen Korrespondenten. In vielen Fällen führte diese Kontaktaufnahme zur Ausbürgerung oder Zwangsauswanderung.
Die sowjetischen Regimekritiker gelangten nach Paris, München, New York, Toronto. Aber auch im Exil betrachteten sie sich als “heroische Einzelgänger”, die allzu oft an ihrer eigenen Karriere im Westen interessiert waren. Genau so wie sie in Russland sich weit erhaben über die Massen fühlten, suchten sie auch im Westen keine Kontakte mit den zahlreichen anderen Auswanderern aus der UdSSR. Ihr “Überlegenheitskomplex” hinderte sie daran.
Am 11. März 1968 — unmittelbar vor dem Urteilspruch im Moskauer Prozess gegen die Dissidenten Ginsburg, Galanskow, Dobrowolsky und Laschkowa — gaben Pawel Litwinow und Larisa Bogoras eine Erklärung ab, die nur wenige Stunden danach von der BBC in russischer Sprache übertragen wurde. Litwinow und Bogoras appellierten damals an die Weltöffentlichkeit,vor allem aber an die Öffentlichkeit der Sowjetunion. Diesen Aufruf hörten Millionen Sowjetbürger. Etwa 1000 Sowjetintellektuelle unterzeichneten einen an den Kreml gerichteten Protestbriet, in dem sie die Verurteilten in Schutz nahmen.
Ende der sechziger Jahre unterstützten verhältnismässig breite Kreise der Sowjetintelligenz die Dissidenten, die sich für die Wahrung der Menschenrechte in der UdSSR einsetzten. Als aber Alexander Solzhenitsyn die Sowjetintellektuellen verächtlich als “Bildungsphilister” bezeichnete, jubelten ihm die meisten Regimekritiker zu. Dadurch wurden Zehntausende fortschrittlicher, reformbestrebter Sowjetintellektueller vor den Kopf gestossen.
In Polen unterstützte die intellektuelle Opposition der “KOR”-Gruppe (der Vereinigung zum Schutz der Arbeiter) die “Solidaritäts”-Bewegung. Als in Warschau unlängst ein Prozess gegen die “KOR”-Führer Kuron und Michnik sowie gegen zwei andere oppositionelle Intellektuelle gestartet wurde, sah sich die polnische Führung bald genötigt, das Verfahren abzublasen. Der Prozess dauerte nur wenige Juli-Tage. Die Gerichtsverhandlungen wurden dann terminlos vertagt. Die Warschauer Führung hatte begriffen, dass Kuron, Michnik und die beiden anderen Angeklagten polnische Patrioten sind. Während der Voruntersuchung hatte man ihnen mehrfach vorgeschlagen, sie nach dem Westen auswandern zu lassen. Die Angeklagten lehnten es aber ab, die Heimat zu verlassen.
Erst wenn es in der Sowjetunion zu einer echten Solidarität zwischen Intellektuellen, Arbeitern und Bauern kommen sollte, wären die Apparatschiks genötigt, mit den oppositionellen Kräften im Lande zu rechnen. L.K.
[Aufbau Aug. 17, 1984. p.8]