Es begann in der Moskauer Oper
30 Jahre deutsch-sowjetische Beziehungen
Im September d.J. jährt sich zum 30. Mal die Aufnahme der diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland. Im September 1955 unternahmen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Aussenminister Heinrich von Brentano einen offiziellen Besuch in Moskau. Die Verhandlungen, die Adenauer mit dem damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin führte, erwiesen sich als überaus schwierig.
Adenauers Ziel war es, nicht nur die diplomatischen Beziehungen zu der UdSSR zu normalisieren, sondern auch die Heimkehr der in sowjetischer Haft befindlichen deutschen Kriegsgefangenen zu erwirken. Anfangs weigerte sich Bulganin hartnäckig, die deutschen Kriegsgefangenen freizulassen. Bulganin begründete seinen Standpunkt mit den von den Nazis in den besetzten Sowjetgebieten begangenen Massenverbrechen. Der sowjetische Premier sagte: “Das Sowjetvolk würde uns die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen, unter denen es Tausende von Massenverbrechern gibt, nie verzeihen. Eine derartige Aktion kommt überhaupt nicht in Frage”. Adenauer bestritt keineswegs, dass Hitlerdeutschland die UdSSR überfallen habe und auf sowjetischem Boden Massenverbrechen verübt worden seien. Er wies jedoch darauf hin, dass zahlreiche Angehörige sowjetischer Truppenverbände gegen Kriegsende auf deutschem Territorium Greueltaten an unschuldigen Zivilpersonen begangen und ganze Städte und Dörfer ausgeplündert hätten. Den Verhandlungen wohnten auch Bundesaussenminister von Brentano und der damalige sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschew bei. Adenauers Hinweis auf die Ausschreitungen sowjetischer Soldaten und Offiziere auf deutschem Boden brachten Chruschtschew in Rage. Von diplomatischer Zurückhaltung war keine Rede mehr. Wutentbrannt bezichtigte der sowjetische Parteichef die westdeutschen Gäste eines umfangreichen Sündenregisters.
Nach dieser ersten stürmischen Verhandlungsrunde statteten Bulganin und Chruschtschew am Spätnachmittag desselben Tages den Bonner Gästen einen Besuch in ihrem Hotel ab. Die Atmosphäre schien jetzt weniger gespannt zu sein.
Am selben Abend besuchten Adenauer und von Brentano in Begleitung von Bulganin und Chruschtschew die Moskauer Oper (das Bolschoi-Theater). Die hohen Gäste wohnten der Aufführung von Prokofjews Ballett Romeo und Julia (unter Mitwirkung der berühmten Ballettänzerin Galina Ulanowa) bei. Als in der Schlußszene die Oberhäupter der verfehdeten Familien Montague und Capulet einander die Hand reichten, erhob sich Adenauer und legte dem sowjetischen Premier beide Hände auf die Schultern. Diese Friedensgeste beeindruckte das Publikum aufs tiefste. Es ertönte lang anhaltender Beifall. Das Eis schien gebrochen zu sein.
Doch zwei Tage danach griff Nikita Chruschtschew den Bundeskanzler aufs heftigste an. Diesmal galt seine Attacke der NATO, einem angeblich antisowjetischen Bündnis.
Bulganins Ehrenwort
Zu einer Einigung kam es während eines Empfangs im Kreml. Bulganin nahm Adenauer beiseite und führte mit dem Bundeskanzler ein Gespräch unter vier Augen. Der sowjetische Ministerpräsident akzentuierte die Notwendigkeit einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Adenauer stimmte dem bei, betonte jedoch die Bedeutung der Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen. Völlig unerwartet sagte nun Bulganin: “Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass sämtliche deutschen Kriegsgefangenen in kürzester Frist heimkehren werden”. Die Kremlführung hat ihr Wort gehalten.
Vor der Rückkehr nach Bonn waren alle strittigen Fragen auf friedlichem Weg beigelegt worden. Wahrend seines Moskauer Aufenthalts hatte Adenauer ein an die Sowjetführung gerichtetes Schreiben verfasst. In diesem offiziellen Brief hob der Bundeskanzler hervor, dass die Herstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Bonn das Rechtsprinzip der Bundesrepublik hinsichtlich der Deutschlandfrage keineswegs ändere, d.h. nach wie vor vertrete die westdeutsche Regierung das gesamte deutsche Volk. Die Sowjetführung nahm Adenauers Schreiben zur Kenntnis, ohne darauf zu reagieren.
Seitdem sind 30 Jahre vergangen. In den Beziehungen zwischen Moskau und Bonn gab und gibt es Perioden sowohl politischer Spannung als auch verhältnismässiger Entspannung. Willy Brandts Ostpolitik trug zu einer relativ friedlichen Entwicklung zwischen Ost- und Westdeutschland bei. Der im August 1970 unterzeichnete sowjetisch-bundesdeutsche Vertrag sieht den beiderseitigen Verzicht auf Gewaltanwendung und die Respektierung der territorialen Integrität sämtlicher europäischen Staaten vor.
Wiedervereinigung unerfüllt
Obwohl Adenauer die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu Moskau und die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen zuwege brachte, gingen nicht alle seine Hoffnungen in Erfüllung. Die Herstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Bonn hat die Wiedervereinigung Deutschlands keineswegs gefördert. Mittlerweile ist das geteilte Deutschland für die Welt zu einer Tatsache geworden. Heutzutage ist das Hauptanliegen der beiden deutschen Staaten nicht die Wiedervereinigung, sondern die Verhinderung einer weiteren Entfremdung.
Dank der Normalisierung der Beziehungen im Jahr 1955 entwickelte sich in zunehmendem Mass der Handel zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen beiden Ländern besteht auch ein Kulturabkommen. In einer Ansprache an den 16. Internationalen Historiker-Kongress, der jüngst in Stuttgart stattfand, hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker u.a. gesagt: “Es hilft uns in unserem wichtigsten Ziel, nie eine Lage entstehen zu lassen, in der wir zwischen Frieden und Freiheit wählen müssten”. Ein Konzept, das sicherlich die Beachtung von Freund und Feind finden dürfte.
L.K.
[Aufbau Sep. 27, 1985. p.3]