Sängerin oder Propagandistin?
Ludmila Sykin in der Carnegie Hall
Ludmila Sykina ist gegenwärtig zweifellos die beste Volksliedersängerin der Sowjetunion. Die ehemalige Fabrikarbeiterin ist heute in Ost und West bekannt. Sykinas tiefe, expressive Stimme erschüttert und begeistert zugleich. In ihrer Darbietung erklingen die russischen Volkslieder mit der ihnen eigenen Mischung von Schwermut und Innigkeit. Ludmlla Sykina, die sich zur Zeit auf einer neuen US-Tour befindet, gab dieser Tage ein schon lange erwartetes Konzert in der Carnegie Hall.
Die erste Programmhälfte war ausschließlich russischen Volksliedern gewidmet. Je nach dem Charakter des Liedes dominierten in Sykinas Wiedergabe verschiedene Stimmungsfaktoren. Voller Elegie erklang das Lied “Als ich eine junge Braut war”. Tragik, tiefe seelische Erschütterung traten in der Darbietung des bekannten russischen Volksliedes “Matuschka” (“Mütterchen”) zutage. Mit Volkshumor und Zartheit sang L. Sykina ihre Glanznummer “Kalinka” (“Schneeballbeere”).
Weniger beeinduckend war die zweite Programmhälfte, die vorwiegend sowjetische Lieder enthielt. Trotz ihrer makellosen vokalen Qualltäten gelang es nicht einmal Ludmlla Sykina, durch die vorgetragenen Lieder, die an innerer Tiefe viel zu wünschen übrig lassen, das Publikum in gleichem Masse zu beeindrucken, wie es bei der Darbietung der Volkslieder der Fall war. Zu einem musikalischen Erlebnis wurden jedoch die beiden alten Romanzen, die Sykina voller Temperament und Leidenschaft sang. Mit wahrem Enthusiasmus reagierte das amerikanische Publikum auf das in russischer Sprache vorgetragene Lied “Jingle Bells”.
Sykina sang unter Begleitung des ausgezeichneten Moskauer Balalaika-Orchesters. Die Romanzen erklangen unter Gitarrenbegleitung. Auch die gute Stimme des Sängers Vitalij Tschaikin, der gleichfalls am Konzert teilnahm, ist zu erwähnen.
Als Dissonanz empfand der Verfasser dieser Zeilen Sykinas in russischer Sprache (ohne englische Übersetzung) verkappte Propaganda-Erklärung kurz vor Abschluß des Konzerts (“Ich komme als Sendbote unserer Heimat Russland” und dergleichen). Diese Worte waren zweifelsohne an die zahlreich erschienenen russischen Emigranten gerichtet. Auch die Wahl einiger Lieder (“In der Ferne”, “Kehre heim, ich werde dir alles verzeihen”) zeugt von einem etwas ungeschickten Propaganda-Trick. L.K.[N.Y. Staats-Zeitung u. Herold. Feb. 28, 1975. p.5]