Tragödie eines sowjetischen Filmstars

In den dreissiger Jahren und zu Beginn der vierziger Jahre war Soja Fjodorowa eine der populärsten sowjetischen Filmschauspielennnen. Die hübsche grossäugige Blondine spielte meist die Rollen von “Mädchen aus dem Volke”, von arbeitseifrigen Jungkommunistinnen. Stalin und seinen Kommissaren schien es, dass Soja Fjodorowas Darstellung das von der Partei propagierte Ideal einer dem “Aufbau des Sozialismus” ergebenen jungen Arbeiterin verkörpere. Zweimal wurde die junge Schauspielerin mit dem Stalinpreis, der höchsten staatlichen Auszeichnung, geehrt. Soja Fjodorowa hatte aber auch das Talent, klassische Rollen meisterhaft darzustellen. Während des Zweiten Weltkriegs spielte sie die Braut in Tschechows “Hochzeit” und erzielte damit einen grossen künstlerischen Erfolg.
Da die junge Schauspielerin damals zur sowjetischen Elite gehörte, wurde sie zu Empfangen im Kreml eingeladen, an denen auch westliche Diplomaten teilnahmen. Bei einem dieser Empfänge lernte sie den jungen amerikanischen Offizier Jackson Tate kennen, der damals — kurz vor Kriegsende — in der Moskauer US-Botschaft den Posten eines MarineAttachés innehatte. Die beiden verliebten sich ineinander. Doch ihr Liebesglück war von kurzer Dauer. Die sowjetische Geheimpolizei bekam von der Affaire Wind, liess den jungen amerikanischen Diplomaten zur persona non grata erklären und zwang ihn, die UdSSR zu verlassen. Soja Fjodorowa wurde wegen ihres “Verbrechens” (unerlaubte Beziehungen zu einem Ausländer) des Landesverrats angeklagt und zu einer achtjährigen Lagerstrafe verurteilt, die sie in Sibirien abbüssen musste. Erst nach Stalins Tod wurde Fjodorowa rehabilitiert und durfte nach Moskau zurückkehren.
Jackson Tate blieb das tragische Schicksal seiner russischen Geliebten verborgen. Er wusste auch nicht, dass er von ihr in der Sowjetunion eine Tochter hatte, die den Namen Viktoria trug. Erst 1953 durfte Viktoria mit ihrer Mutter zusammenleben. Bis dahin war sie von Versandten erzogen worden. Als Viktoria 16 Jahre alt wurde, erfuhr sie von ihrer Mutter, wer ihr Vater ist. Viktoria Fjodorowa wurde — wie ihre Mutter — Filmschauspielerin. 1973, zu Beginn der Détente, gelang es der Mutter, die Anschrift und die Telefonnummer des Vaters ihres Kindes ausfindig zu machen. Mittlerweile hatte es Jackson Täte in seiner militärischen Laufbahn weit gebracht — er war Admiral der US-Marine (Admiral Tate verschied vor einigen Jahren). 1973 sprach Viktoria zum erstenmal im Leben mit ihrem Vater per Telefon.
Eine weltweite Kampagne setzte ein, um es Viktoria zu ermöglichen, ihren Vater in den Vereinigten Staaten zu besuchen. Die Sowjets widersetzten sich dieser elementaren Forderung. Admiral Tate wandte sich in einem Schreiben an den Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnjew mit der Bitte, seiner Tochter Viktoria ein Ausreisevisum zu gewähren. 1975 — zur Blütezeit der Detente — fand der Kreml sich schliesslich bereit, Viktoria ausreisen zu lassen.
Inzwischen ist Viktoria mit einem US-Flieger verheiratet. Der Ehe entsprang ein Sohn. Die Sowjetbehörden gestatteten es Soja Fjodorowa mehrmals, ihre Tochter in den USA zu besuchen. In der UdSSR wurden dem einst so berühmten Star in einigen Sowietfilmen Nebenrollen überlassen. Während Soja Fjodorowas letztem US-Aufenthalt lernte sie Andrej Sedych, den Chefredakteur der in New York City erscheinenden russischsprachigen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo” bei einem Konzertbesuch in der Carnegie Hall kennen. Im Lauf der Unterhaltung sprach Fjodorowa von ihrem Wunsch, in Amerika zu bleiben; sie wolle es aber nur auf gesetzlichem Wege tun. Deshalb beabsichtige sie, nach Moskau zurückzukehren und dort ein Auswanderungsvisum zu beantragen.
Seit diesem Gespräch sind mehrere Jahre vergangen. Soja Fjodorowa hatte mehrmals um eine Auswanderungsbewilligung ersucht. Alle ihre Gesuche wurden von der Moskauer Pass- und Visenbehörde abgewiesen. So wurde Soja Fjodorowa zum Refusenik.
Am 11. Dezember 1981 suchte sie — zum letzten Mal in ihrem Leben — die Moskauer Passbehörde auf, und wieder wurde sie mit einer abschlägigen Antwort nach Hause geschickt. Nach Tagen, in denen ihre Moskauer Verwandten nichts von ihr hörten, wandte sich ihr Neffe, Valerij Fjodorow, an die Polizei, die daraufhin die Wohnungstür der Vermissten aufbrach und Fjodorowa tot auffand. Zunächst behaupteten die Behörden, Soja sei einem Herzinfarkt erlegen. Der Neffe gab sich jedoch mit diesem Befund nicht zufrieden. Er ging schnurstracks ins Leichenschauhaus, wo er erfuhr, dass Soja durch einen Genickschuss ums Leben gekommen sei. In Moskauer Meldungen hiess es dann, die einst gefeierte sowjetische Filmschauspielerin sei das Opfer eines Raubmordes gewesen.
Viktoria, die mit ihrer Familie in Stamford, Conn., lebt, hat 1979 in den USA ein in englischer Sprache verfasstes Buch “The Admiral’s Daughter” veröffentlicht. In diesem Buch schildert sie den tragischen Liebesroman ihrer Eltern und ihre eigene Jugend. Das Buch ist eine brennende Anklage gegen das Sowjetregime. Wäre das Buch nicht erschienen, so hätte der KGB sich vielleicht doch noch bereit gefunden, der vereinsamten alten Frau die Auswanderung zu ihrer Tochter in Amerika durch Erteilung des AuswanderungsVisums zu ermöglichen, was dem Geist und Buchstaben der Schlussakte von Helsinki (Familienzusammenführung) entsprochen hätte. Mit der Publikation des Buches wurde diese Möglichkeit hinfällig. Da die Verfasserin, Sojas Tochter, in ihrem amerikanischen Exil dem Zugriff der Sowjets entzogen ist, rächten sie sich an der Mutter und verwehrten es ihr, die Tochter wiederzusehen.
Als Viktoria vom Tod ihrer Mutter erfuhr, ersuchte sie die Sowjetbotschaft in Washington, ihr ein befristetes Einreisevisum zur Teilnahme an der Beisetzung der Mutter auszustellen. Ein solches Visum könne, so lautete die Antwort der Sowjets, nur dann erteilt werden, wenn sie bereit sei, einen sowjetischen Auslandspass zu beantragen. Andernfalls könne sie als amerikanische Bürgerin nicht in Russland einreisen. Im State Department hiess es dann, wenn sie einen sowjetischen Auslandspass akzeptiere, würde sie auf sowjetischem Boden nicht unter amerikanischem Schutz stehen und könne nötigenfalls nicht mit amerikanischer Hilfe rechnen. Begreiflicherweise wollte Viktoria ein solches Risiko nicht eingehen. Und so wurde Soja Fjodorowa in Abwesenheit ihrer Tochter zu Grabe getragen.

L.K.

[Aufbau Jan. 22, 1982. p.7]

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