Ein neues GULAG-Handbuch
Avraham Shifrin: “The First Guidebook to Prisons and Concentration-Camps of the Soviet Union” (Translated front the Russian). Bantam Books, New York. 391 Seiten. $7,95.
Avraham Shifrin, Verfasser des unlängst veröffentlichten GULAG-Handbuchs “The First Guidebook to Prisons and Concentration-Camps of the Soviet Union”, wurde 1953 wegen angeblicher “antisowjetischer Tätigkeit” zum Tod verurteilt. Die Todesstrafe wurde in eine 25jährige Freiheitsstrafe umgewandelt. Nach zehnjähriger Lagerhaft und vierjähriger Verbannung wurde Shifrin schliesslich auf freien Fuss gesetzt. 1970 durfte er nach Israel auswandern, wo er ein Forschungszentrum für sowjetische Strafanstalten und sogenannte “psychiatrische Heilstätten” gründete. Das vom Bantam-Verlag kürzlich herausgebrachte Buch ist das Ergebnis langjähriger Studien. Shifrin hat in seinem Handbuch nicht nur seine eigenen GULAG-Erfahrungen verwertet, sondern sich auch der Informationen von Hunderten ehemaliger Insassen sowjetischer Arbeitslager und Gefängnisse bedient, die von ihm und seinen Mitarbeitern interviewt worden waren. Dem Verfasser ist es sogar auf Umwegen gelungen, Photos und konkrete Informationen aus der UdSSR zu erhalten.
Shifrin setzt das Werk von Alexander Solschenitzyn fort, dessen “GULAG-Archipelag” die Zeitspanne 1918-1956 umfasst. Shifrins Buch ist ein nüchterner (und gerade deshalb so erschütternder) Tatsachenbericht, der die Gegenwartssituation im GULAG-Reich präzise darlegt.
Das Buch enthält exakte Angaben über 1976 sowjetische Arbeitslager, 273 Gefängnisse und 85 “psychiatrische Heilstätten”. Die Anordnung des Materials entspricht der administrativen Einteilung der Sowjetunion in 15 Sowjetrepubliken. Der Leser findet in Shifrins Dokumentarbericht die genauen Anschriften der sowjetischen Strafanstalten. Besondere Kapitel sind den Kinder- und Frauengefängnissen, den psychiatrischen Strafanstalten und den heutigen Vernichtungslagern gewidmet. Obwohl die Sowjets es abstreiten, gibt es in der UdSSR 119 Sondergefängnisse für Kinder und Frauen. Die Zustände in diesen Strafanstalten sind völlig menschenunwürdig. Zuweilen führt das zu Aufständen und Fluchtversuchen der an den Rand der Verzweiflung getriebenen Kinder. Wer an der Existenz von Kindergefängnissen in der UdSSR zweifelt, wird durch authentisches Photomaterial eines Besseren belehrt.
In den psychiatrischen Strafanstalten werden Andersdenkende und Regimekritiker zeitlich unbegrenzten qualvollen chemikalischen Prozeduren ausgesetzt, die über kurz oder lang die Inhaftierten völlig dehumanisieren.
Shifrins exakte Angaben entkräften die in manchen westlichen intellektuellen Kreisen verbreitete Ansicht, dass es sowjetische Vernichtungslager nur zu Lebzeiten Stalins gegeben habe. Shifrin beweist in seinem Buch, dass es heute in der UdSSR mindestens 41 Vernichtungslager gibt, in denen die Sträflinge entweder in Uran-Anreicherungsanlagen oder bei der Gewinnung von Uranerz beschäftigt sind. Die Tage dieser Unglücklichen sind gezählt. Während Stalin Millionen Häftlinge erschiessen liess oder sie im Arbeitslager erfroren oder verhungerten, kommen im Breschnjew-Reich Tausende durch Bestrahlungsschäden um.
Das GULAG-Handbuch enthält 170 Karten und zahlreiche Photos. Für alle, die das wahre Antlitz des totalitären Russland zu erkennen suchen, ist Avraham Shifrins Dokumentarbericht eine unentbehrliche Informationsquelle.
L.K.
[Aufbau Aug. 27, 1982. p.13]