Missachtung der Menschenrechte in China
Im Einklang mit einem Grundprinzip der kommunistischen Partei Chinas muss jeder Bürger der Volksrepublik in unmittelbarer Nähe seiner Arbeitsstätte wohnen. Falls er das nicht kann, bleibt ihm nicht anderes übrig, als bei einem Arbeitskollegen Unterkunft zu finden. Auf das Familienleben wird keine Rücksicht genommen.
Ein erheblicher Teil der Bevölkerung Chinas wohnt — sowohl in Grosstädten als auch in kleineren Ortschaften — in besonderen Gebäude-Komplexen, wo jeder Bewohner aufs strengste bei Tag und bei Nacht überwacht werden kann.
Aus einem (durch Anschlag an den Mauern eines solchen Wohnkomplexes bekanntgegebenen) Erlass der Parteileitung für die Provinz Hubei geht hervor, dass alle Hausbewohner spätestens um elf Uhr abends in ihrer Wohnung sein müssen. Wer versucht, sich diesem Gebot dadurch zu entziehen, dass er zu später Stunde über die Mauer springt, wird streng bestraft. Selbstverständlich werden auch tagsüber am Eingangstor zum Wohnkomplex alle von Wohnungsinhabern und Besuchern mitgeführten Einkaufstaschen und Pakete von Sicherheitsbeamten routinemässig durchsucht.
Das System der Wohnkomplexe ist in China die bestorganisierte administrative Einrichtung. Von Landstreichern abgesehen, gehört jeder Chinese zu einer “administrativen Einheit”, die ihn mit seiner Arbeitsstätte unlöslich verbindet. Dieses organisatorische Grundprinzip findet in Stadt und Land Anwendung. Betriebe, Kontore und Dorfbrigaden sind Teil dieser Gesamtstruktur. Alte Menschen, Kinder und Kranke zahlen zu der “Einheit” ihrer berufstätigen Angehörigen. Die Zugehörigkeit zu einer “administrativen Einheit” ist in China — neben der Staatsbürgerschaft — das wichtigste Attribut einer legalen Existenz. Wenn ein Chinese in einer fremden Ortschaft auftaucht, wird in erster Linie nach seiner “administrativen Einheit” gefragt, und erst danach, wenn überhaupt, nach seinem Namen.
Die wichtigsten Lebensprobleme werden von dem Kollektiv entschieden. Sogar individuelle Entscheidungen in intimen Familienfragen bedürfen der Sanktionierung seitens der “administrativen Einheit”. Partei und Regierung bestimmen auch für jede einzelne “Einheit” die jeweils gültigen Geburtswachstumsnormen. Die Frauen des Kollektivs veranstalten besondere Versammlungen, in denen beschlossen wird, wer gerade an der Reihe ist, ein Kind in die Welt zu bringen. Auch rein materielle Fragen, wie z.B. der Erwerb eines Fahrrads, unterliegen strengster Reglementierung. Das entscheidende Wort hat in allen Fällen das Gremium der Parteigenossen.
Im Westen herrschen unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der chinesischen Parteifunktionäre vor. Manche westliche Beobachter betrachten die Parteigenossen der “administrativen Einheiten” als eine Art wohlwollender Sozialarbeiter, die sich redlich bemühen, Familienkonflikte und nachbarliche Konflikte friedlich beizulegen oder potentielle jugendliche Kriminelle auf die rechte Bahn zu leiten. Diametral entgegengesetzte Ansichten werden von Flüchtlingen oder Emigranten aus der Volksrepublik China vertreten. Sie sehen in den Parteifunktionären nichts weiter als Spitzel, die ihre politische Macht ständig dazu missbrauchen, sich durch Denunziationen bei der Obrigkeit beliebt zu machen.
Einen gewissen Grad von Unabhängigkeit geniessen solche Bürger, deren berufliche Tätigkeit ihnen die Möglichkeit bietet, sich der Überwachung seitens der Parteifunktionäre zu entziehen. Zu diesen Glücklichen gehören u.a. die chinesischen Fuhrleute. Da ihre Arbeit nicht ortsgebunden ist, unterliegen sie nicht dem Urteil ihrer “allwissenden” Nachbarn.
Im Gegensatz zu früher stellen die heute existierenden “Arbeitskollektive” eine lebenslange Knechtschaft dar, der nur ganz wenige entrinnen können. Meist gehört jeder Chinese seiner “administrativen Einheit” bis zu seiner Todesstunde an.
Die chinesischen Behörden lassen die Lösung eines Arbeitsverhältnisses nur dann zu, wenn es dem betreffenden Werktätigen gelingt, einen Ersatzmann von der gleichen beruflichen Qualität zu stellen.
An Strassenlaternen und Zäunen in Peking erscheinen häufig kleine, handgeschriebene “Gesuche” von Menschen, die in weitentfernten Städten wohnen und die in Erfahrung bringen wollen, wer bereit sei, seinen Arbeitsplatz in Peking mit einem solchen in der Provinz einzutauschen. Zuweilen appellieren die Verfasser der Inserate an die humanen Gefühle ihrer Mitmenschen. Diese oft rührenden Gesuche sind stumme Zeugen des tragischen Geschicks von Menschen, die nur zwei Wochen im Jahr im Kreis ihrer Familie zubringen dürfen.
L.K.
[Aufbau Sep. 24, 1982. p.7]