Neue Tendenzen im sowjetischen Untergrund
Mitte September d.J. gab Jelena Bonner, die Gattin des nach Gorki verbannten Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, bekannt, dass die vor sechs Jahren gegründete Moskauer Helsinki-Gruppe — infolge der grausamen und unerbittlichen Verfolgungen durch die Sowjetbehörden — nicht mehr existieren könne. Von den ursprünglich 19 Mitgliedern der Gruppe sind zurzeit nur drei auf freiem Fuss: Jelena Bonner, die 75jährige Juristin Sofia Kallistratowa und Prof. Naum Meiman, dem die Auswanderung schon jahrelang verweigert wird.
Der KGB (sowjetischer Sicherheitsdienst) hat in letzter Zeit die ehemalige Anwältin, die mehrfach Dissidenten vor Gericht vertrat, geheizt und schikaniert. Ohne Rücksicht auf Kallistratowas Alter hat die Moskauer Staatsanwaltschaft der unbeugsamen Juristin ein Strafverfahren angedroht. Infolge des neuen kalten Kriegs reagiert der Kreml nicht mehr auf westliche Proteste. Unter diesen Umstanden wäre Sofia Kallistratowa der “Sowjetjustiz” zum Opfer gefallen. Eine derart kritische Situation veranlasste Jelena Bonner, die Auflösung der Moskauer Helsinki-Gruppe bekanntzugeben.
Die Auflösung der Gruppe bedeutet aber keineswegs das Ende der Samisdat-Literatur (Untergrund Publikationen). Der KGB hat seine Bemühungen intensiviert, die Veröffentlichung der “Chronik der laufenden Ereignisse”, die schon jahrelang über sämtliche Verletzungen der Menschenrechte in der UdSSR berichtet, endgültig zu unterbinden. Trotz zahlreicher Verhaftungen erscheint die “Chronik” — wenn auch in grösseren Abstanden — nach wie vor.
Ausser der “Chronik der laufenden Ereignisse” erscheinen im sowjetischen Untergrund zahlreiche andere Publikationen. Als besonders gefährlich erachtete der KGB drei sozialistische Samisdat-Zeitschriften: “Der Sozialismus und die Zukunft”, “Die linke Wende” und “Alternativen”. Während sich die Richtung der beiden erstgenannten Publikationen als eurokommunistisch bezeichnen lässt, entwickelten die Herausgeber der “Alternativen” ein ausgesprochen sozialdemokratisches Programm. Im Unterschied zu den Menschenrechtlern, die in ihren Schriften Namen und Adressen bekanntgaben, erschienen sämtliche Artikel der Mitarbeiter des sozialdemokratischen Blattes unter Decknamen.
Besondere Aktivität offenbarten fünf junge hochgebildete Moskauer, die dem Kreis der sowjetischen Elite angehören. Die Herausgeber der “Alternativen” und deren Anhänger halten es für grundsätzlich falsch, mit dem Westen Kontakte zu unterhalten. Ihr Ziel ist es nicht, auszuwandern und Russland den Rücken zu kehren. Ihre politische Taktik ist auf enge Fühlungnahme mit sowjetischen Arbeitern gerichtet.
Selbstverständlich setzte der KGB alles daran, den sozialdemokratischen Aktivisten auf die Spur zu kommen. Fast anderthalb Jahre dauerte die Treibjagd (die Zeitschrift “Alternativen” wurde seit 1980 veröffentlicht). Am 5. April 1982 wurden die fünf jungen Sozialdemokraten gefasst und bald darauf vor Gericht gestellt. Sie wurden zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt. Zurzeit ist der KGB bestrebt, die Herausgeber der beiden anderen sozialistischen Zeitschriften aufzuspüren.
Von Interesse ist die Tatsache, dass keine grössere amerikanische oder westeuropäische Zeitung über die sozialdemokratischen und eurokommunistischen Tendenzen in der sowjetischen Untergrund-Literatur berichtet hat. Über die Verhaftung der fünf Herausgeber der “Alternativen” liegt im Westen bisher keine Presse-Information vor. Dieser Umstand ist wohl darauf zurückzuführen, dass die sozialistischen Aktivisten Kontakte mit westlichen Korrespondenten mieden. Die Verhaftung und Aburteilung der fünf Moskauer Sozialdemokraten wurde von mehreren in New York ansässigen ehemaligen Sowjet-Dissidenten bestätigt (der Verfasser dieser Zeilen verdankt die diesbezügliche Information sowjetischen Dissidentenkreisen).
Die politische Aktivität der kleinen Schar sozialdemokratischer und eurokommunistischer Ideologen war für den KGB — im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen — eine Herausforderung ersten Ranges. Sozialdemokraten, die mit sowjetischen Arbeitern in Kontakt treten, sind für den Kreml potentiell bedeutend gefährlicher als Andersdenkende, die lediglich die Wahrung der in der Verfassung der UdSSR garantierten Bürgerrechte fordern und sich für die Durchführung der in Helsinki feierlich verkündeten Grundsätze (Recht auf Familienzusammenführung sowie auf Information und Meinungsaustausch) einsetzen.
Trotz der Verhaftung der Herausgeber der “Alternativen” wird der KGB kaum ruhen, sondern nach neuen “Abweichlern” fahnden. Die Kremlgreise fürchten weniger die Forderung nach Bürgerrechten. Ihre besondere Sorge gilt der jüngeren Generation, die Stalins Massenterror nicht erlebt hat. Diese junge Sowjetgeneration ist in erster Linie konsumorientiert. Schon jetzt liegen im Westen Berichte vor, denen zufolge junge Sowjetbürger auf den katastrophalen Rückgang des Massenkonsums mit Leistungsverweigerung antworten.
Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftssituation wächst von Tag zu Tag. In den sowjetischen Grossstädten haben sich in den letzten Jahren aggressiv gestimmte Jugendcliquen gebildet. In einer derartigen sozial-politischen Konfliktsituation lassen sich zwei mögliche Entwicklungswege voraussehen. Die konstruktiven Elemente der sowjetischen Arbeiterklasse könnten — falls sie hierbei seitens der Intellektuellen Unterstützung finden — eine sozial-politische Reformbewegung bilden. Eine zweite, besonders gefährliche Möglichkeit bestünde dann, dass die Aggressivität und Unzufriedenheit vieler Jugendlicher zu Pogromzwecken missbraucht würde. Immer häufiger werden in Moskau, Leningrad und Kiew Hakenkreuze und Davidsterne an die Mauern gemalt.
Der KGB ist über die aggressive Stimmung zahlreicher Vertreter der jüngeren Generation gut unterrichtet. Gerade deshalb werden dem Rechtsdissidenten Gennadij Schimanow bei der Herausgabe einer neuen russisch-chauvinistischen und religiös-fanatischen Samisdat-Zeitschrift keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Schimanow empfiehlt der Sowjetführung, auf den Marxismus endgültig zu verzichten und die griechisch-katholische Religion als russische Heilslehre zu verkünden.
Während Menschenrechtler und Sozialdemokraten in der UdSSR verfolgt und verhaftet werden, lässt man Schimanow und seinesgleichen unbehelligt. Diese Entwicklungstendenz birgt für die etwa zwei Millionen Sowjetjuden neue Gefahren in sich.
L.K.
[Aufbau Nov. 12, 1982. p.5]