Anpassungsprobleme sowjetjüdischer Einwanderer in den USA
In den letzten 10 Jahren sind über 90.000 Sowjetjuden in die Vereinigten Staaten eingewandert. Etwa die Hälfte der sowjetjüdischen Immigranten hat sich in New York City niedergelassen. Der Hauptstrom des neuen Exodus der siebziger Jahre ergoss sich in die Hudson-Metropole wohl deshalb, weil diese als traditionelles Immigrantenzentrum die Neuankömmlinge so leben lässt, wie es ihnen passt. In New York leben die sowjetjüdischen Einwanderer in bestimmten Stadtvierteln — vornehmlich in Brighton Beach (dem sogen. “Klein-Odessa”), in Forest Hills, Jackson Heights und Washington Heights.
Tausende von sowjetjüdischen Immigranten sind in Chicago, Los Angeles, San Francisco, Boston, Cleveland und Minneapolis ansässig geworden. Fast in sämtlichen Bundesstaaten (ausser in Hawaii und Alaska) sind die neuen Einwanderer aus Russland anzutreffen.
In den Wohnvierteln, wo eine grössere Zahl neu eingewanderter russischer Juden konzentriert ist, wurden bald Lebensmittelhandlungen eröffnet, wo — ausser amerikanischen und westeuropäischen Delikatessen — traditionell russische Sortimente feilgeboten werden. Besitzer der Laden sind unternehmungslustige sowjetjüdische Einwanderer. In Brooklyn gibt es zahlreiche russische Restaurants. Die Speisekarte bietet dem Besucher eine Vielfalt von Gerichten, und Wodka wird ‹ genau so wie in Russland ‹ nur per Flasche bestellt.
Aber nicht nur Delikatessenhandlungen und Restaurants werden in den sowjetjüdischen Wohnzentren der US-Städte eröffnet. Auch für das geistige Wohl wird gesorgt. So gibt es z.B. in Brighton Beach eine russische Buchhandlung (“Schwarzmeer-Buchhandlung”). Hier stehen sowohl Bücher prominenter russischer Exil-Schriftsteller zum Verkauf, als auch in der UdSSR veröffentlichte Werke russischer Klassiker (Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Puschkin, Turgenjew u.a.). Der in Manhattan befindliche “Kismet”-Verlag betreibt einen regen Handel mit russischsprachigen Schallplatten und Tonbändern. Besonderer Nachfrage erfreuen sich die Lieder des 1980 verstorbenen russischen Volkssängers Wladimir Wysotski.
In der in New York erscheinenden russischen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo” mehren sich die Anzeigen sowjetjüdischer Ärzte, Zahnärzte und sogar Finanzberater.
Ungeachtet dieser äusseren Anzeichen der Amerikanisierung ist der Kulturschock der sowjetjüdischen Neuankömmlinge ein durchaus ernstzunehmendes Problem. Diesem Phänomen liegen mehrere Ursachen zugrunde. Es handelt sich nicht nur um die Sprachbarriere, die an sich eine schwere Hürde darstellt. Eine Reihe von sozialen und psychologischen Faktoren wirkt sich auf die aus der UdSSR kommenden Einwanderer in den ersten Exiljahren hemmend aus. In der alten Heimat waren sie nicht daran gewöhnt, Eigeninitiative zu offenbaren. Arbeit und Wohnung wurden ihnen zugewiesen. Obwohl sie jahrelang auf Zuweisung einer separaten Zwei- oder Dreizimmerwohnung warten mussten, war ihrerseits nur minimale Initiative erforderlich. Wer gute Beziehungen zur Obrigkeit hatte, konnte auf eine bessere Wohnung in kürzester Frist hoffen. Beziehungen halfen auch, eine — für sowjetische Verhältnisse — gutbezahlte Anstellung zu finden. Wer keine einflussreichen Bekannten hatte, musste sich mit einer weniger vorteilhaften Arbeit begnügen. Zum Unterschied von den deutschen Juden, denen es in den dreissiger Jahren gelang, dem Dritten Reich zu entfliehen, fällt es den sowjetjüdischen Emigranten schwer, sich an die freie Marktwirtschaft des Westens zu gewöhnen.
Sowjetbürger sind sich der Verlogenheit und der Halbwahrheiten der Sowjetpresse bewusst. In der UdSSR zweifelten die heutigen US-Immigranten nicht daran, dass sämtliche die Vereinigten Staaten betreffenden Informationen sowjetischer Korrespondenten aus der Luft gegriffen seien. Das Credo der ehemaligen Sowjetbürger lautete: Wahr ist das Gegenteil dessen, was die “Prawda” behauptet. So kam es dazu, dass manche der heutigen sowjetjüdischen Einwanderer den Kapitalismus für eine Art Schlaraffenland hielten. Die Verteufelung der amerikanischen Marktwirtschaft durch die Sowjetpropaganda trug zu diesem Mangel an Realitätssinn bei. Die Folge dieser Denkweise führt oft zu bitteren Enttäuschungen und Trug- schlüssen. Die Einwanderer aus der UdSSR wollen es einfach nicht wahrhaben”, schrieb das “New York Times Magazine”, “dass die Strassen hierzulande nicht mit Gold gepflastert und die Matratzen nicht mit Dollarbündeln ausgestopft sind.”
Den russischen Einwanderern scheinen ihre amerikanischen Mitbürger höflicher und freundlicher als die Leute in ihrer früheren Heimat, aber in den Augen jüngster Immigranten aus der UdSSR geht restliche Höflichkeit oft mit Gleichgültigkeit einher. Neue Freundschaften bahnen sich nur selten an. Kontakte mit Amerikanern werden — meist aus Gründen der sprachlichen Barriere — nur in Ausnahmefällen unterhalten. Aber auch mit ihren ehemaligen Landsleuten, denen sie in der Nachbarschaft begegnen, freunden sie sich gewöhnlich nicht allzu häufig an.
Manchen sowjetjüdischen Einwanderern gelingt es, Einsamkeit und Kulturschock durch Eingliederung in das Leben der in der Nachbarschaft befindlichen Synagoge zu überwinden. Hier finden sie eine neue Gemeinsamkeit. Vertreter der älteren Generation sind eher dazu geneigt, die Synagoge zu besuchen. In ihrem Bewusstsein sind jüdische Traditionen noch erhalten geblieben.
Die Informationsflut des Westens verwirrt die Ankömmlinge aus dem Osten. In der Sowjetunion schien alles klar und deutlich zu sein. Man misstraute einfach der offiziellen Regierungsinformation. Man war sich der Kompliziertheit der modernen Welt — bei dem im Lande üblichen Informationsmangel — kaum bewusst. Nur die wenigsten vermochten es, politische und soziale Erscheinungen zu beurteilen.
Was aber der russischen Exilpresse völlig fehlt, ist ein Mindestmass an analytischer Fähigkeit. In den meisten politischen Artikeln ersetzen Emotionen logische Gedankengänge. Von gewissem Interesse ist die Tatsache, dass zahlreiche sowjetjüdische Einwanderer — ungeachtet ihrer oft kläglichen Finanzlage — aktive Unterstützer des konservativen Flügels der Republikanischen Partei sind. Die meisten Publizisten der russischen Exilpresse machen keinen Unterschied zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberalen. Diese grundverschiedenen politischen Richtungen werden unter dem Schlagwort “Rote Gefahr” miteinander vereinigt. In diesem Mangel an differenzierter Behandlung komplexer politischer Fragen offenbart sich — auf kuriose Weise — die in der UdSSR eingebleute monistische Denkweise.
Vieles schockiert Sowjetimmigranten in ihrer neuen Heimat. “Es gibt zu viel Freiheit und zu wenig Disziplin” hört man des öfteren in Gesprächen mit sowjetjüdischen Einwanderern.
Der Kulturschock führt oft dazu, dass die Neuankömmlinge, die hierzulande noch nicht etabliert sind, ihren Freunden und Verwandten in Russland begeisterte Briefe schreiben. In den Briefen schildern sie den Schick und die Eleganz des westlichen Lebens. Hierbei sind die Briefschreiber zuweilen Welfare-Empfänger.
In einer besonders schweren Lage erweisen sich die Intellektuellen. Musikvirtuosen, die sich schon in der UdSSR einen Namen gemacht haben, können in Amerika in den meisten Fällen ihre Karriere fortsetzen. Anders ergeht es den sogen. nonkonformistischen Malern, die in Russland verfolgt wurden. Im Westen erweist es sich, dass ihr Nonkonformismus schon längst überholt ist und Kunstkenner kaum noch interessiert. Was die russischen Exilschriftsteller anbetrifft, so haben nur wenige in den USA Anerkennung gefunden (Solsehenitsyn, Aksionow, Woinowitsch, Sinowjew). Zahlreiche ehemalige Literaten, Journalisten, Filmleute, Künstler und sogar Juristen sahen sich genötigt, umzusatteln. Manche von ihnen sind heute Taxichauffeure, Boten oder Buchhalter. Immerhin ist es — laut offiziellen Angaben — über 50% der sowjetjüdischen Einwanderer gelungen, in Amerika eine Beschäftigung zu finden, wo sie ihre früheren Berufserfahrungen verwerten können.
Eine Amerikanisierung der russischen Einwanderer, die im Alter von über 30 Jahren in der Neuen Welt eintreffen, ist wohl kaum möglich. Nur die Vertreter der jungen Generation, die heute amerikanische Schulen besuchen, werden sich in die US-Gesellschaft — ohne Nostalgie und seelische Komplexe — eingliedern können.
L.K.
[Aufbau Dec. 10, 1982. p.17]