Die Daumenschraube der russischen Stiefmutter
Verstärkter Druck Moskaus auf Ostblockländer
Von ROBERT HERZENBERG
Die Wirtschaftskrise der westlichen Welt wirkt sich auch auf die COMECON-Länder aus. Inflation und Rezession haben sogar dazu geführt, dass die osteuropäischen Satellitenländer gegenwärtig in bedeutend grossere Abhängigkeit von Moskau geraten sind, als es noch vor kurzem der Fall war. Der Sowjetunion ist es gelungen, die finanziellen Schwierigkeiten, denen auch der Ostblock ausgesetzt ist, auf die Vasallen-Staaten abzuschieben.
Obgleich der Kreml neulich in einer TASS-Meldung den propagandistischen Versuch unternahm, die zu Jahresbeginn im COMECON ausgearbeitete Preisneuordnung für Rohstoffe. Industriewaren und landwirtschaftliche Erzeugnisse als Massnahmen darzustellen, die angeblich der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft zugute kommt, unterliegt es keinem Zweifel, dass die russische Stiefmutter ihren Schützlingen neue finanzielle Lasten aufgebürdet hat.
Das Hauptproblem ist hierbei die bedeutende Steigerung des Ölpreises, den Moskau in seinen Gunsten durchgesetzt hat. Zu Beginn des Jahres hatte Janos Kadar, der ungarische Parteiführer, auf sowjetische Zugeständnisse gehofft und eine Kompromisslösung bei der Unterzeichnung eines neuen ungarisch-sowjetischen Handelsvertrages für möglich gehalten. Diese Hoffnungen haben sich mittlerweile als illusorisch erwiesen.
Sowjetisches Erdöl und sonstige sowjetische Rohstoffe betragen etwa 70 Prozent des ungarischen Gesamtimports aus der UdSSR. Entsprechend der 1975 “vereinbarten” COMECON-Preisneuordnung werden Ungarn die aus der Sowjetunion importierten Rohstoffe (darunter Rohöl) durchschnittlich um 52 Prozent höher zu stehen kommen, als es noch im vorigen Jahr der Fall war. Demgegenüber ist der Preis der von Ungarn in die UdSSR exportierten Industrieprodukte (Maschinen, technische Ausrüstungen) im Durchschnitt nur um 15 Prozent gestiegen. Soweit es sich um Produkte der Leichtindustrie handelt soll sich der Preis nur um 19 Prozent erhöhen. Ähnliche Proportionen der Preissteigerungen für sowjetische Rohstoffexporte in die Satellitenländer und osteuropäische Industriewaren-Exporte in die Sowjetunion gelten für sämtliche Ostblockstaaten.
Die wirtschaftliche Neuregelung im COMECON wird über kurz oder lang Veränderungen der Aussenhandelsbilanz nach sich ziehen, die sich ausschliesslich zu Moskaus Gunsten gestalten dürften. Auf diese Weise konnte es dem Kreml gelingen, nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Druck auf manche seiner gar zu “ketzerischen” Stiefkinder auszuüben. Ungeachtet der aussenpolitischen Gleichschaltung auf Moskau hat es Kadar vermocht, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine recht elastische Wirtschaftspolitik in Ungarn durchzuführen, die den einzelnen Unternehmen grossere Aktionsfreiheit gewährt. Die ungarische Wirtschaftsreform hat den Wohlstand des Landes bedeutend gehoben. Moskau verfolgt derartige selbständige Experimente seiner Satelliten mit Unbehagen und versucht durch die neue COMECON-Preisregelung solchen eigenmächtigen Abweichungen der “Bruderländer” ein Ende zu bereiten.
Was die DDR anbetrifft, hat die von Ost-Berlin stets übertrieben betonte Moskauhörigkeit bei den jüngsten Wirtschaftsentscheidungen zu keinen praktischen Ergebnissen geführt. Die COMECON-Preisneugestaltung wird sich beeinträchtigend auf das Lebensniveau in Ostdeutschland auswirken. Schon in diesem Jahr wird die Steigerung der Preise für die aus der UdSSR importierten Energiestoffe und sonstigen Rohstoffe die Wirtschaft des Landes mit weiteren 600 Millionen Rubel belasten.
Um die Eigenproduktion von Energiequellen zu heben, bemüht sich die Staats- und Parteiführung der DDR, die Förderung von Braunkohle zu intensivieren. Wie bekannt, verfügt die DDR über verhältnismässig grosse Braunkohlenvorkommen. Die diesbezügliche Produktion ist jedoch in den letzten Jahren gesunken. Im Mai dieses Jahres erklärte DDR-Minister Klaus Siebold, Braunkohle sei der wichtigste Teil der Energiestruktur der Republik und grosste Anstrengungen seien erforderlich, um auf diesem Gebiet bedeutendere Erfolge zu erzielen. Die DDR stösst jedoch hierbei auf erhebliche Schwierigkeiten sowjetischerseits. Vorbedingung der sowjetischen Rohstofflieferungen ist die Moskauer Forderung, DDR-Maschinerie in Russland zur Rohstoff-Ausbeutung einzusetzen. Wie aus informierten Quellen gemeldet wird, sind die Maschinen und Ausrüstungen, die an die Sowjetunion geliefert werden müssen, häufig für Zwecke der Eigenentwicklung der DDR-Wirtschaft erforderlich, insbesondere für die weitere Hebung der Braunkohlenproduktion.
Das einzige Land im europäischen Hinterhof Moskaus, das sich einige Unabhängigkeit erhalten hat, ist Rumänien. Dank einem Peking und Moskau gegenüber mehr oder weniger ausgeglichenen Kurs hat es der rumänische Partei- und Staatsführer Nicolae Ceausescu fertiggebracht, sich einen gewissen Spielraum auf aussenpolitischem Gebiet zu sichern. Ceausescu hofft, durch intensivere Wirtschaftskontakte mit dem Westen, Rumäniens Abhängigkeit von Moskau zu lockern. Erst unlängst haben die USA Rumänien die Meistbegünstigungsklausel zugebilligt.
Abschliessend lässt sich sagen, dass die Unterzeichnung der Genfer Schlussakte durch die Repräsentanten von 35 Nationen in Helsinki die Kontrolle Moskaus über die Regierungen und Parteien der Satellitenländer noch bedeuten
[Aufbau Aug. 22, 1975. p.5]