Moskaus Schiffbruch in Portugal
Angst vor Demokratie hilft der Demokratie
Bei der Analyse der Ereignisse in Portugal fällt vor allem die bisher wenig beachtete, aggressive und zugleich ungeschickte Haltung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Portugals (KPP), Alvaro Cunhal, und seiner Genossen auf. In das Zwielicht, das den Generalsekretär der KPP bisher umgab, hat jetzt der vor fünf Jahren in die USA geflüchtete tschechoslowakische Generalmajor Jan Schejna mit einem in der “London Times” veröffentlichten Artikel einiges Licht gebracht.
Schejna kennt Cunhal noch von Prag her, aus der Zeit in der Cunhal als politischer Emigrant (1960 bis 1968) in der tschechischen Hauptstadt lebte und wirkte. Nach der Invasion von 1968, die er offen begrüsste, siedelte Cunhal nach Moskau über. Kurz darauf befasste er sich. Schejna zufolge, auf dk Sowjetführung eingehend mit der langfristigen Planung der künftigen revolutionären Aktionen in Portugal. Das Endziel dieser Pläne, die Bildung einer “progressiven demokratischen Regierung” in Lissabon, sollte 1976/77 erreicht werden. Die dabei von den Sowjets erarbeitete Analyse der Situation in Portugal wurde, wie Schejna betont, ein fester Bestandteil der Strategie des Warschauer Pakts. Sie basierte auf der Annahme, dass Portugal (neben der Türkei und Griechenland) als das schwächste Glied der Nordatlantischen Allianz zu gelten habe. Daher Moskaus Anweisung, dass Portugal auch nach dem Sturz des rechtsextremen Regimes in der NATO verbleiben soll. Schejna bemerkt dazu, dass Cunhal, dem die praktische Ausführung der Moskauer Anweisungen oblag, sich stets des vollen Vertrauens der Moskauer Machthaber erfreute und dass seine Moskau-Hörigkeit keinem Zweifel unterliegen kann.
Inzwischen hat sich klar erwiesen, dass die Taktik der portugiesischen Kommunisten in voller Übereinstimmung mit den Direktiven der sowjetischen Spitzenführung steht. Moskaus Rezept für die kommunistischen Parteien Westeuropas lautete, auf eine kurze Formel gebracht: Unterwanderung der Armee und der Gewerkschaften und Eroberung der Massenmedien.
Fünf Tage nach Unterzeichnung der Schlussakte in Helsinki brachte die “Prawda” einen Leitartikel, der neue Ratschläge für die Kameraden in Lissabon enthielt. Die “Mehrheit” der Bevölkerung sei für wahre Leninisten, hiess es in dem Artikel, “kein arithmetischer, sondern ein politischer Begriff”. Ganz unverblümt forderte die “Prawda” die portugiesischen Genossen auf, nicht um jeden Preis die Einheit mit den Sozialisten anzustreben, sondern eine “revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft — unter Führung der Kommunistischen Partei — zu errichten”.
Wie sich inzwischen herausgestellt hat, hat Moskau der Kommunistischen Partei Portugals mit diesen Ratschlägen einen Bärendienst erwiesen. Die ungetarnten Aktionen der portugiesischen Kommunisten haben den breitesten Kreisen der Bevölkerung die Augen geöffnet. Nicht nur die Sozialisten, Volksdemokraten und Katholiken widersetzten sich entschieden den hartnäckigen Versuchen, dem Lande eine kommunistische Diktatur aufzuzwingen, auch die überwältigende Mehrheit der Armee war nicht gewillt, eine neue Tyrannei zu dulden.
Logischerweise drängt sich die Frage auf: warum hat der Kreml seinen portugiesischen Schützlingen nicht dazu geraten, sich der Volksfront-Taktik zu bedienen, die womöglich zu der Machteroberung durch die Kommunisten hätte führen können? Massgebend dürfte dabei die in letzter Zeit wiederholt in Erscheinung getretene Angst Moskaus vor einer potenziellen Sozialdemokratisierung der westeuropäischen kommunistischen Parteien und vor einer damit verbundenen Beeinträchtigung der sowjetischen Hegemonialansprüche sein.
In diesem Zusammenhang verdienen Moskaus Bemühungen Beachtung, sobald wie möglich eine Gipfelkonferenz der kommunistischen Parteichefs einzuberufen. Moskau verfolgt weiterhin das Ziel, seine Führungsrolle in der kommunistischen Welt zu festigen. Die italienischen, spanischen, jugoslawischen und rumänischen Kommunisten, die sich für Selbstbestimmung innerhalb der kommunistischen Welt einsetzen, haben sich dabei als Hürden erwiesen und haben sich durch ihre widerspenstige Haltung den Groll und das Misstrauen des Kreml zugezogen.
Aus diesem Gesichtswinkel gesehen, ist die Furcht vor einer demokratisch untermauerten Volksfront in Portugal der tiefste Grund der zahlreichen Fehlgriffe, die zur Isolierung der Moskau-orientierten KPP führten, geworden. So hat Moskaus blinde Angst vor Demokratie der Sache der Demokratie gedient. Robert Herzenberg
[Aufbau Sep. 19, 1975. p.3]