Moskau missachtet Helsinki-Deklaration

Kein Nachlassen der Juden- und Dissidentenverfolgungen

Von ROBERT HERZENBERG

Vor einem Jahr wurden in Helsinki die Schlussakte der Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit feierlich unterzeichnet. Das Moskauer Parteiblatt “Prawda” veröffentlichte Anfang August 1975 sogar den Gesamttext der Schlussakte. In der Presse der westlichen Welt fehlte es nicht an skeptischen Stimmen, die vor einer Détente-Euphorie warnten. Sowjetische Dissidenten (Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Andrej Amalrik u.a.) mahnten die Freie Welt, sich Moskau gegenüber keinen falschen Illusionen hinzugeben. Der “Humanitätseifer” der Sowjets sei nichts anderes als ein taktisches Manöver. Wie sehr die Skepsis berechtigt war, zeigte sich in den inzwischen vergangenen 12 Monaten. Sowjetische Bürger, die sich für die Einhaltung der in Helsinki unterzeichneten humanitären Bestimmungen einsetzten, werden ermordet, eingekerkert, misshandelt oder — bestenfalls — beschattet. So wurde am 26. April 1976 der bekannte sowjetische Übersetzer Konstantin Bogatyrjow im kritischen Zustande in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert. KGBAgenten (Geheimpolizei) hatten ihm durch Stockschläge schwere Kopfverletzungen beigebracht. Mitte Juni erfuhr der Westen von seinem Tode.
Der KGB trägt auch die Schuld am Tode von Jefim Dawidowitsch, dem vier Jahre lang das Ausreisevisum nach Israel verweigert wurde. 76 russische und sowjetjüdische Dissidenten haben in einem offenen Brief, der kürzlich den Westen erreichte, die direkte Verantwortung des KGB für Davidowitschs Tod nachgewiesen.
Oberst Jefim Davidowitsch, der sich im Zweiten Weltkrieg an der Front ausgezeichnet hatte, fasste 1972 den Entschluss, mit seiner Familie nach Israel auszuwandern. Sein Ersuchen um ein Ausreisevisum führte dazu, dass ihm seine Offiziersrente entzogen wurde. Seine Familie stand damit vor dem wirtschaftlichen Ruin und auf ihn selbst wurde ein bis aufs genaueste berechneter psychologischer Terror ausgeübt. Drohungen, Provokationen und Hetzartikel in der Minsker Presse erschienen in kurzer Folge. Nach dem siebenten Herzanfall gab es keine Hoffnung mehr, den noch vor einigen Jahren so rüstigen Davidowitsch am Leben zu halten. Er hatte nur noch einen Wunsch— in Israel zu sterben. Aber der KGB gab nicht nach. Helsinki war vergessen. Er verschied im Frühjahr 1976.
Am 7. Juni dieses Jahres wurde der 15jährige Mark Alber in einer Moskauer Schule solange geprügelt, bis er das Bewusstsein verlor. Der “Grund” hierfür war die Tatsache, dass sein Vater, ein bekannter Mathematiker und Direktor eines Computer-Labors, zusammen mit seiner Familie um die Auswanderung nach Israel ersucht hatte. Metallkugeln wurden in das Schlafzimmer von Mark und dessen 10jährigem Bruder llja geschleudert. Zum Glück war niemand im Zimmer anwesend. Als sich der Vater bei der Moskauer Miliz beschwerte, zuckte man dort nur die Achseln.
In jedem Rechtsstaat hat die Amnesty International ihre Vertretung. Die Repräsentanten dieser Organisation sind in der Freien Welt keinen Verfolgungen ausgesetzt. In Moskau wurde der bekannte sowjetische Biologe Sergej Kowaljow, Mitglied der Moskauer Filiale der Amnesty International, im Dezember 1974 verhaftet und angeklagt, sich mit antisowjetischer Tätigkeit befasst zu haben. Der Prozess fand Mitte Dezember vergangenen Jahres statt. Das Urteil lautete auf sieben Jahre Arbeitslager mit nachfolgender dreijähriger Verbannung.
Der sowjetische Physiker Andrej Twerdochlebow, Mitbegründer des Sacharowschen Komitees für Menschenrechte und — seit September 1974 — Sekretär der sowjetischen Filiale von Amnesty International, kam “besser” davon. Er wurde “nur” zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Weltbekannte Gelehrte und Journalisten (darunter Nobelpreisträger Hans Bethe und L. Nirenberg; der amerikanische Publizist Harrison Salisbury) hatten sich für Twerdochlebow eingesetzt und an den Obersten Sowjet der UdSSR appelliert, den sowjetischen Gelehrten aus der Haft zu befreien. Der Appell der westlichen Intellektuellen hat sicherlich dazu beigetragen, das Urteil zu lindern.
Ungeachtet der Verfolgungen durch den KGB hat sich eine Gruppe sowjetischer Dissidenten dazu entschlossen, einen neuen Ausschuss zu bilden, dessen Ziel es ist, die Wahrung der humanitären Bestimmungen der Europäischen Sicherheitskonferenz zu überwachen. Im Laufe eines Monats hat der Ausschuss hinreichendes Beweismaterial gesammelt, das von der groben Verletzung der Menschenrechte in der UdSSR zeugt (Nichterfüllung der aus dem Manifest von Helsinki resultierenden Verpflichtungen betreffs der Familienzusammenführung, grausame Behandlung von politischen Häftlingen u.a.). Die sowjetischen Dissidenten haben es sogar fertiggebracht, ihre Berichte zahlreichen in Moskau akkreditierten Botschaften zuzustellen.
Kürzlich hat der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky die westlichen Regierungen aufgefordert, sich schon jetzt auf die für 1977 anberaumte Belgrader Konferenz vorzubereiten, deren Ziel es ist, zu überprüfen, was in den zwei Jahren nach Helsinki erreicht worden ist. Man kann nur hoffen, dass die westlichen Länder Kreiskys Mahnung ernst nehmen werden.

[Aufbau Jul. 30, 1976. p.5]

 SCAN