Gleichung mit vielen Unbekannten
Maos Tod bereitet dem Kreml Kopfzerbrechen
Von ROBERT HERZENBERG
Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China nach Mao geht nicht nur die kommunistische Welt an, sondern auch — und zwar in nicht geringem Mass — den Westen, und vor allem die Vereinigten Staaten.
In der amerikanischen Presse stehen zur Zeit viele Hypothesen und politische Prognosen von China- und Russland-Kennern. Viele dieser Weissagungen und Analysen entbehren der auf Tatsachen beruhenden kausalen Zusammenhänge. Es ist sicher kein Zufall, dass unmittelbar nach Maos Tod der KGB-Chef Jurij Andropow (62) und der sowjetische Innenminister Nikolaj Schtschelokow (66) zu Armee-Generälen befördert wurden. Beide befehligen jetzt Truppenbestände der Sowjetarmee. Es handelt sich dabei um eine weitere Festigung der Positionen der Spitzenführer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, denn Andropow und Schtschelokow sind treue Anhänger Breschnews. Dieser Schritt des Kremls bestätigt die Annahme, dass das sowjetische Politbüro schon längere Zeit Versuche unternimmt, die Militärführung der Parteispitze, also Generalsekretär Breschnew, unterzuordnen. Wie bekannt, wurde nach dem Tode von Marschall Gretschko Dmitrij Ustinow, Zivilist und Freund Breschnews, zum Verteidigungsminister der UdSSR ernannt. Generalstabschef Viktor Kulikow wurde ausgeschaltet. Am 7. Mai wurde Breschnew zum Marschall befördert und wurde gleichzeitig Vorsitzender des Verteidigungsrates der Sowjetunion. Breschnew hat dadurch das Militärkommando übernommen. Erst jetzt — nach Maos Tod — zeigen diese Ereignisse ihren wahren Grund. Der Machtkampf zwischen dem Kreml und der Armeeführung wird Tatsache.
Maos Tod, der sich voraussehen liess, stand bereits einige Zeit im Kreml zur Debatte. Die konsequente Ausschaltung der bisherigen Befehlshaber der Sowjetarmee vom politischen Entscheidungsprozess weist darauf hin, dass das Politbüro sich durch die Befürworter eines Krieges im Generalstab nicht in ein gegen China gerichtetes, riskantes militärisches Abenteuer hineinzerren lassen wollte. Die Tatsache, dass der KGB-Chef und der Innenminister — einen Tag nach Maos Tod — zu Armeegenerälen befördert wurden, ist zweifellos als Sicherheitsmassnahme zu deuten. Gegenwärtig ist die Kremlführung entschieden gegen eine militärische Lösung des sowjetisch-chinesischen Konfliktes.
Das bedeutet keineswegs, dass Breschnew und seine Anhänger auf die Absicht verzichtet haben, aus künftigen Wirren in China politischen oder militärischen Nutzen zu ziehen.
Obwohl die sowjetische Presse vor Monaten betont hat, dass auch nach Maos Tod Peking sowjetfeindlich bleiben werde, da Maos Ansichten zu einem wesentlichen Bestandteil der chinesischen Aussenpolitk geworden sind, wird der Kreml den in China zu erwartenden Machtkampf zwischen den gemässigten, pragmatisch ausgerichteten Elementen und den Radikalen aufmerksam verfolgen.
Die Gemässigten kontrollieren in China wichtige Sektoren des Partei- und Wirtschaftsapparates. Die Radikalen üben entscheidenden Einfluss auf die Massenmedien und den Propaganda-Apparat aus. Von Bedeutung wird in Zukunft die Position des Oberkommandos der chinesischen Armee sein. Der Kreml weiss, dass bisher beide Fraktionen — die Gemässigten und die Radikalen — gegen die Sowjets sind. Interessant ist. was Michail Kapiza, Leiter der Fernostabteilung des sowjetischen Aussenministeriums, sagte. Kapiza glaubt, dass Wang Hung-wen, Führer der Radikalen der Schanghai-Gruppe, Nachfolger Maos werden wird. Moskau wird den Pekinger Machtkampf beobachten und dabei grösste Zurückhaltung ausüben oder auch potentielle prosowjetische Elemente in China auf subtile Weise stärken.
Sowohl in Washington als auch in Moskau wird mit der Möglichkeit gerechnet, dass die künftige politsche Führung Pekings es versuchen werde, Amerika und die Sowjetunion gegeneinander auszuspielen.
[Aufbau Sep. 17, 1976. p.6]