Sowjetjuden: Israel oder USA?

Neuregelung der Hilfsmassnahmen für sowjetjüdische Auswanderer

       Die Zahl der sowjetjüdischen Auswanderer, die es vorziehen, sich nicht in Israel, sondern in den USA oder in Kanada niederzulassen, ist im Steigen begriffen. 1975 waren es schon mehr als 40 Prozent aller sowjetjüdischen Emigranten, die nach einem kurzen Aufenthalt in Wien nach Rom befördert wurden, wo sie meist mehrere Monate auf das US-Einreisevisum warten müssen. Alle Kosten für Verpflegung, Logis und Transport (einschliesslich des Fluges Rom — New York) wurden bisher von jüdischen philanthropischen Organisationen (HIAS, Joint Distribution Committee) bestritten. Auf diese Weise gelangten 1975 5300 Sowjetjuden in die USA. Die Hälfte von ihnen wurde nach Ankunft in New York in verschiedene amerikanische Städte weiterbefördert, wo sie von lokalen jüdischen Gemeinden betreut werden. Die übrigen 50 Prozent blieben in New York City (hier nimmt sich ihrer die jüdische Wohltätigkeitsorganisation NYANA an).
Es ist durchaus verständlich, dass die israelische Regierung und die Jewjsh Agency diese Entwicklung mit grösster Unruhe verfolgen. Die jüdische Bevölkerung Israels hat in diesem Jahr z[…] 3-Millionen-Grenze überschritten, aber der Geburtenzuwachs im Lande ist unter Arabern bedeutend grösser als unter Juden. Schon jetzt leben in Galiläa mehr Araber als Juden. Es ist daher nur allzu verständlich, dass auf die Masseneinwanderung der Sowjetjuden, die 1971-72 einsetzte, grösste Hoffnungen gesetzt wurden.
Unlängst hat die Jewish Agency Schritte unternommen, die die finanzielle Unterstützung der sowjetjüdischen Einwanderung nach den USA und Kanada unterbinden könnten. Nach Ansicht massgebender Vertreter der Jewish Agency, ist es grundfalsch, wenn jüdische philanthropische Organisationen viele Millionen Dollar für die sich in den Westen begebenden Sowjetjuden verausgaben. Zur Zeit wird dieser Fragenkomplex von einer aus acht Mitgliedern bestehenden Kommission in Rom behandelt (vier Vertreter der israelischen Regierung und der Jewish Agency; vier weitere Repräsentanten amerikanisch-jüdischer Organisationen: HIAS, Joint Distribution Committee, United Jewish Appeal, Federation of Jewish Philanthropic Societies). Eine Entscheidung wird in Kürze erwartet.
Den Auftakt zu diesen organisatorischen Massnahmen gab ein im Frühherbst in der “Jerusalem Post” erschienener Artikel. Sarah Honig, die Verfasserin schnitt die Frage an, ob “Weltreisen sowjetjüdischer Emigranten auf Kosten des jüdischen Volkes” gerechtfertigt seien.
Amerikanischen und israelischen Presseberichten zufolge stehen in Rom zwei Vorschläge zur Diskussion. Eine der vorliegenden Alternativen wäre es, israelische Einreisevisen nur in den Fällen zu gewähren, in denen die Jewish Agency Grund zur Annahme hat, dass die betreffenden Personen tatsächlich den Wunsch haben, nach Israel auszuwandern. Gegen eine solche Regelung spricht, dass die Jewish Agency nicht imstande ist, die individuelle Situation der Auswanderungswilligen innerhalb der UdSSR zu prüfen. Eine Reduzierung der israelischen Einreisevisen könnte unter solchen Umständen der Willkür und dem Zufall Tür und Tor öffnen und würde somit den sowjetischen Behörden, die sich nur unter Druck zur Bewilligung von Ausreisevisen bereitfinden, gelegen kommen.
Die andere Alternative, die zur Zeit in Rom erörtert wird, läuft darauf hinaus, dass ein sowjetjüdischer Emigrant, dem die Russen ein für Israel gültiges Ausreisevisum ausgestellt haben, von jüdischen philanthropischen Organisationen im Westen nicht als Flüchtling betrachtet werden soll. Faktisch würde das bedeuten, dass diejenigen, die nicht nach Israel zu gehen beabsichtigen, auf keinerlei finanzielle Unterstützung durch die HIAS und Joint rechnen können. Rein rechtlich betrachtet könnten sie in einem solchen Fall auf eigene Kosten aus Israel auswandern.
Eine derartige Neuregelung würde insofern wirksam sein, als sowjetjüdischen Auswanderern der Weg nach Amerika praktisch versperrt wäre, da die amerikanischen Einwanderungsbehörden Sowjetjuden US-Einreisevisen nur dank der Vermittlung der HIAS gewähren. Ausserdem verfügen die meisten Emigranten nicht über die für den Aufenthalt tn Europa oder für Überseereisen erforderlichen Geldmittel.
Einflussreiche amerikanisch-jüdische Organisationen, die sich bisher mit grösster Energie für das Auswanderungsrecht der Sowjetjuden eingesetzt haben, kritisieren die Pläne der in Rom tagenden Kommission aufs schärfste. Besonders rege sind in dieser Hinsicht der Southern California Council for Soviet Jews, die in Cleveland (Ohio) tätige Action — Central for Soviet Jews und The Center for Russian Jewry (New York). Si Frumkin, ehemaliger Präsident der Union of Councils for Soviet Jews, schreibt in einem Rundbrief: “Ich bin erschüttert, dass Vertreter der amerikanischen Judenheit und der Israelis sich bereitfinden, Juden die Einreise in die Vereinigten Staaten unmöglich zu machen, umsomehr als das zu einem Zeitpunkt geschieht, in dem die amerikanischen Einwanderungsbehörden zum ersten Mal nach vielen Jahrzehnten Juden in grösserem Umfang wieder einreisen lassen.”
Auch in Israel ist die Tätigkeit der in Rom tagenden Acht-MannKommission auf heftigen Widerstand gestossen. So schreibt David Tversky, Redakteur von “Shdemot”, einem Presseorgan der Kibbutzbewegung, in einem Brief an die “Jerusalem Post”: “Gibt es tatsächlich unter uns Menschen, die sich nach den Tagen zurücksehnen, in denen der Jude überhaupt keine Wahl hatte? … Das jüdische Volk hat seine Freiheit errungen. Es wäre eine bittere Ironie der Geschichte, wenn gerade Israel, das diesem Freiheitskampf seine Existenzverdankt, dazu beitrüge, diese Errungenschaften zu gefährden.”
Von besonderer Bedeutung ist ein offener Brief sowjetjüdischer Aktivisten, die jetzt in Israel leben und nicht beabsichtigen, das Land zu verlassen (Sylva Salmanson, Prof. Voronel, Dr. Lunz, Dr. Rubin u.a.). In diesem Protestschreiben heisst es u.a.: “Die Emigration aus der UdSSR ist eine Lebensnotwendigkeit.” Der in der Sowjetunion von oben inspirierte Antisemitismus und die Zwangsassimilation bedrohen die Existenz des sowjetischen Judentums. Jeder Versuch, die freie Wohnsitzwahl der Emigranten bei ihrer Ankunft in Wien zu beeinträchtigen, kann nur verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen. Die Juden der freien Welt dürfen den Sowjets nicht dazu verhelfen, die Auswanderung aus der UdSSR zum Stillstand zu bringen.”

[Aufbau Oct. 29, 1976. p.6]

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