Politische Stabilisierung in Peking

Tschou En-Lais pragmatischer Kurs wird fortgeführt

Politische Stabilisierung in Peking: Tschou En-Lais pragmatischer Kurs wird fortgeführt Schon vor dem Tod von Mao Tsetung gab man sich in Moskau keinerlei Illusionen über die Chance einer Aussöhnung mit Peking hin. Der chinesisch-sowjetische Konflikt galt im Kreml seit 1975 als unabänderlich und Breschnjew erklärte vor dem 25. kongress der Kommunistischen Partei, Peking habe es darauf abgesehen, “die Détente zu torpedieren und einen neuen Weltkrieg zu provozieren”.
Der Verlauf des nach Maos Ableben entbrannten Machtkampfes zwischen den von seiner Witwe Chiang Chin geführten “Radikalen” und den “Pragmatikern” (oder “Gemässigten”) konnte an der antisowjetisch ausgerichteten Haltung beider um Maos Erbe kämpfenden Faktionen nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen: Die Radikalen setzten den sowjetischen “Sozial-Imperialismus” dem “amerikanischen Imperialismus” gleich und die “Pragmatiker” sahen — und sehen — im sowjetischen Imperialismus die grössere Gefahr. Für sie ergibt sich daran die praktische, den Sowjets unwillkommene Schlussfolgerung, dass eine Intensivierung der Kontakte zum Westen das Gebot der Stunde ist.
Dass der chinesische Machtkampf mit dem Sieg der Pragmatiker endete, führte zu einer Konsolidierung der Zentralgewalt in Peking und zu einer realistischeren Beurteilung der Verteidigungsprobleme. Armee und Regierung riefen Anfang Februar mehrere wissenschaftliche Konferenzen ein, die sich mit Fragen der Modernisierung der Rüstungsindustrie befassten. Für das Frühjahr ist eine grosse gesamtnationale Tagung anberaumt, deren Aufgabe es sein wird, Richtlinien für die weitere Wirtschaftsentwicklung unter Berücksichtigung der Verteidigungsbelange auszuarbeiten. Ersichtlich ist dabei schon heute, dass die gegenwärtige Führung in Peking allmählich von Maos strategischen Grundsätzen abrückt. Seine bekannte These, dass Chinas Feinde lediglich Papier-Tiger seien, die in den “Flammen eines Volkskrieges” das ihnen gebührende Ende finden würden, fand ihren Niederschlag in der militärpolitischen Doktrin, die für den Kriegsfall dem “revolutionären Geist” der Truppe die entscheidende Rolle zuweist. Folgerichtig wurde daher das Hauptgewicht auf die ideologische Durchbildung und die physische Stählung der Armee gelegt, während rüstungstechnische Fragen weitgehend in den Hintergrund traten.
Obwohl in China auch heute noch dem Mao-Kult gehuldigt wird, lasst sich die Regierung von Hua Kuo-feng in allen praktischen Fragen von den pragmatisch ausgerichteten Prinzipien Tschou En-lais leiten. Schon aus taktischen Gründen können es sich die neuen Machthaber nicht leisten, von den überholten maoistiscben Konzeptionen offen abzurücken.
Hua Kuo-fengs Regime hat einige beachtliche militärtechnische Fortschritte erzielt. Dazu gehört der im vergangenen Dezember vorgenommene erfolgreiche Einsatz eines künstlichen Erdtrabanten, dazu gehört auch die gegen Jahreswende bewerkstelligte Explosion einer vier Megatonnen starken HBombe. Nach Ansicht westlicher Militärexperten ist Peking gegenwärtig zu einem nuklearen Gegenschlag imstande. China forciert zur Zeit ein umfassendes Raketen- und Kernwaffen-Programm, dessen Ziel die Abschreckung eines potentiellen Angreifers ist. Ausländische Militärfachleute, die Volkschina unlängst besucht haben, verweisen ferner darauf, dass das technische Niveau der konventionellen Ausrüstung der Armee viel zu wünschen übrig lässt. Im Falle einer sowjetischen Invasion konnte dieser Faktor den Ausgang der Kämpfe entscheidend bestimmen. Die energischen Massnahmen, die jetzt in China zur Hebung des Rüstungsniveaus ergriffen werden, sind auf eine Beseitigung dieser Mängel gerichtet.
Nach dem Siege der Pragmatiker im Machtkampf sind auch Hindernisse überwunden, die der Einfuhr moderner westlicher Technologie bisher im Wege standen. Die “radikale” Gruppe strebte eine Autarkie Chinas an und lehnte den Abschluss grösserer Handelsabkommen mit dem Westen ab. Seitdem sind Verhandlungen offizieller Vertreter des Pekinger Aussenhandelsministeriums mit amerikanischen, westeuropäischen und japanischen Firmen aufgenommen worden. Der Massenimport neuester westlicher Technologie und kompletter Betriebsanlagen ist für 1977-78 geplant.             L.K.

[Aufbau, Mar. 11, 1977. p.6]

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