“Gulasch-Kommunismus” macht Schule
Ostblockländer im Bann des Verbrauchertums
Die meisten osteuropaischen Staaten sehen sich in zunehmendem Mass genötigt, die Ansprüche und Forderungen der Verbraucher in Rechnung zu stellen. Der ungarische Parteichef Janosch Kadar hatte schon längst den engen Zusammenhang zwischen der Stabilität des Regimes und der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung erkannt. Die Erfolge des ungarischen “Gulaschkommunismus” wurden nur durch die gezielte Verlangsamung des Tempos bei der Entwicklung der Schwerindustrie ermöglicht. Obwohl in Ungarn Fleisch fast doppelt so teuer ist wie in Polen, hat Kadar es fertiggebracht, die Spanne zwischen Angebot und Nachfrage zu normalisieren. In Ungarn gibt es praktisch keine Mangelwaren, und Läden verfügen über reichliche Sortimente von Massenbedarfsartikeln aller Art.
Die ungarische Wirtschaftspolitik, die in beachtlichem Mass auf die Erfordernisse des Konsums ausgerichtet ist, unterscheidet sich wesentlich vom sowjetischen Modell. Nach wie vor räumt Moskau in seinen Fünfjahrplänen der Schwerindustrie den führenden Platz ein. Dessenungeachtet bekundet der Kreml den ungarischen Reformbestrebungen gegenüber eine gewisse Toleranz. Moskau ist bereit ein Auge zuzudrücken, solange Kadars Experimente ohne grösseres Aufsehen durchgeführt werden.
In jüngster Zeit häufen sich die Anzeichen dafür, dass auch die polnische Regierung versucht, dem ungarischen Beispiel zu folgen. Die Praxis der letzten 6 bis 8 Jahre hat den Beweis dafür erbracht, dass die Macht in Polen mit der Lage der Konsumenten steht und fällt. Wladislaw Gomulka musste 1970 infolge der durch die polnische Wirtschaftskrise verursachten Unruhen abdanken. Die Unzufriedenheit der Massen bekam auch Edvard Gierek Ende Juni 1976 zu spüren, als eine in Aussicht genommene Lebensmittelverteuerung zu Streik und Rebellion führte. Die Ereignisse, die sich in den heissen Sommertagen 1976 abspielten, waren für Gierek eine unmissverständliche Warnung, aus der er die notwendigen Konsequenzen zog, auch wenn der Preis dafür hoch ist. Das Budget des laufenden Jahres sieht 300 Milliarden Zloty (ein Drittel des gesamten Haushalts) für die Subsidierung von Lebensmitteln, Textilwaren, Mieten und Verkehrsgebühren vor.
Im vergangenen Jahr hat die polnische Regierung bedeutende Getreidemengen eingeführt. Auch Fleisch wurde importiert, um die Nachfrage — wenigstens zur Weihnachtszeit — zu befriedigen. Den Bauern wurden Altersrenten in Aussicht gestellt und der Sejm hat ein Gesetz verabschiedet, das die Vererbung von Grundbesitz, der sich zu 90 Prozent in Privathand befindet, ermöglicht. Gierek tut sein möglichstes, um den polnischen Bauern davon zu überzeugen, dass seine Interessen durch den kommunistischen Staat gewahrt werden können. Nicht minder wichtig ist es für Gierek, den Verbrauchern Vertrauen in die Wirtschaftspolitik von Partei und Regierung einzuflössen.
Die polnische Führung braucht Zeit und Ruhe, um die Wirtschaft zu sanieren. Im laufe der letzten fünf Jahre wurden die Löhne der polnischen Werktätigen durchschnittlich um 40 Prozent erhöht. Daraus resultierte eine Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot. Gierek steht daher jetzt vor der Alternative, entweder die Kaufkraft der Bevölkerung zu mindern oder das Angebot der steigenden Nachfrage anzupassen. Zurzeit lasst sich kaum voraussehen, wie sich die Dinge weiter gestalten werden.
Auch das ostdeutsche Regime sieht sich gezwungen, auf die Stimmungen der Verbraucher Rücksicht zu nehmen. Schon seit 20 Jahren sind in der DDR die Preise der wichtigsten Lebensmittel, der Mietzins, sowie die Gebühren für öffentliche Dienstleistungen unverändert geblieben, im November vergangenen Jahres wurde offiziell bekanntgegeben, dass ein Drittel des neuen Budgets für die Befriedigung der Bedürfnisse der Konsumenten verausgabt werden wind. Doch ungeachtet der Bemühungen von Partei und Regierung übt die Bevölkerung an der Qualität der DDR-Produktion Kritik und bevorzugt westdeutsche Waren. Unlängst kam es sogar dazu, dass die Arbeiter mehrerer Ostberliner Betriebe die Forderung stellten, einen Teil ihres Arbeitslohns in West-Mark zu erhalten.
Im Gegensatz zu Ungarn, Polen und der DDR ist in der Sowjetunion der Verbraucher nicht zu einem politischen Faktor geworden, mit dem der Kreml zu rechnen hat. Nicht nur in der Provinz, sondern auch in Moskau, Leningrad und in den Hauptstädten der einzelnen Unionsrepubliken fehlt es an Fleisch, Gemüse, Obst, Geschirr, Schuhwerk, modischer Kleidung u.a.m. Die Bewohner der Dörfer und Siedlungen des Moskauer Gebiets begeben sich fast allwöchentlich nach Moskau, um Weissbrot einzukaufen. In den Laden des Wolgagebiets, des Urals und Sibiriens ist Fleisch nur in seltenen Ausnahmefallen erhältlich.
Das Lebensniveau der Sowjetbürger ist niedriger als das der Polen und Ungarn. Während jedoch Kadar und Gierek sich genötigt sehen, Konzessionen zu machen, berücksichtigt der Kreml bei der Aufstellung der Wirtschaftspläne die materiellen Bedürfnisse des Sowjetvolkes nur in geringstem Mass. Schon jahrelang wird in den Massenmedien der UdSSR das sogenannte “Verbrauchertum” als typische Mentalität des Kleinbürgertums verunglimpft.
Die Sowjetführung war bisher noch nicht den Gefahren ausgesetzt, die der polnischen kommunistischen Partei schon mehrmals gedroht haben. Jedoch schon heute ist die Sowjetführung von einer panischen Angst vor einer künftigen Annäherung zwischen Dissidenten und oppositionellen Arbeitern ergriffen. Vorläufig gelingt es dem KGB (dem sowjetischen Sicherheitsdienst), derartige Versuche zu unterbinden.
L.K.
[Aufbau Jan. 13, 1978. p.5]