Italiens “historisches Kompromiss”
Eine Verlegenheitslösung, die niemanden befriedigt
Anfang Februar kam es in Italien zu einer neuen Abmachung zwischen dem führenden Christdemokraten Giulio Andreotti und Enrico Berlinguer, dem Parteichef der Kommunisten. Der Generalsekretär der KPI verzichtete auf eine direkte Regierungsbeteiligung seiner Partei und gab sich unerwarteterweise mit einer kommunistischen Mitbestimmungsrolle im Rahmen einer breiten parlamentarischen Majorität zufrieden. Faktisch bedeutet das Abkommen vom 7. Februar, dass fortan — bis zu den italienischen Präsidentschaftswahlen Knde 1978 — die Kommunisten einer christdemokratischen Regierung nicht nur stillschweigende, sondern auch aktive Unterstützung gewähren werden. Als Gegenleistung dürfte ihnen ein Mitspracherecht bei der Besetzung wichtiger Regierungsposten eingeräumt werden.
Präsident Carters Stellungnahme zu den Eurokommunisten hat sich im Laufe seines ersten Amtsjahres sichtlich gewandelt. Von seinem Laissez-faire, wie es sich noch in serner Rede an der Notre Dame University manifestierte, ist wenig übriggeblieben, und die jüngsten, aus dem Weissen Haus emanierenden Warnungen vor den Gefahren [des] Eurokommunismus unterschei[det] sich kaum noch von Henry Kissingers einstigen Kassandraru[fe.]
Unbestreitbare Tatsache ist, dass die Christdemokraten ohne kommunistische Unterstützung nicht imstande sind, sich an der Macht zu halten. Andererseits kommt für Italien eine Volksfrontregierung nicht in Frage, denn der “Italokommunismus” unterscheidet sich wesentlich von den übrigen “eurokommunistischen” Parteien. Die KPI strebt seit 1973 (nach dem Sturz Allendes in Chile) daher auch keine Volksfront, sondern eine Regierungskoalition mit den Christdemokraten an — den sogenannten “historischen Kompromiss”.
Dieser innenpolitische Kurs der KPI könnte durch eine Verhärtung der amerikanischen Position gefährdet werden. Eine Gruppe von etwa 100 jüngeren Abgeordneten der Christdemokraten (von insgesamt 263 christdemokratischen Deputierten) hat sich kategorisch gegen jegliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten ausgesprochen. Der Sprecher dieser Gruppe, Massino de Carolis, erklärte kürzlich, eine Konfrontation mit der KPI sei unvermeidlich, falls Italien vor dem Kommunismus bewahrt werden sollte. US-Botschafter Richard Gardner scheint sich diese Auffassung des rechtsgerichteten Flügels der Christdemokraten zu eigen gemacht zu haben. Dass sie jetzt auch in Washington Anklang gefunden hat, ergibt sich aus den jüngsten Warnungen des State Departments.
Andreotti und der gemässigte Flügel der Christdemokraten sind sich bewusst, dass die Durchführung harter, aber notwendiger Wirtschaftsmassnahmen und eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus ohne die Unterstützung der Kommunisten nicht möglich ist.
Am 26. Januar 1978 versuchte Berlinguer, die “eurokommunistische” Position zu präzisieren. Sie ergäbe sich aus dem Doppelpostulat: “Untrennbarkeit von Demokratie und Sozialismus” und “pluralistische Demokratie”. Laut Berlinguer ist das Fernziel “ein sozialistischer Staat, der gegründet ist auf allen religiösen, staatsbürgerlichen und politischen Freiheiten, auf dem System der politisch-parlamentarischen Demokratie, der Pluralität der Parteien, des Regierungswechsels nach dem Mehrheitsprinzip”.
Diese Definition des “Italokommunismus” ist nicht nur mit dem Marxismus sowjetischer Prägung, sondern mit dem Marxismus schlechthin unvereinbar, hingegen unterscheidet sie sich grundsätzlich nur wenig von der sozialdemokratischen Ideologie. Als politische Maxime krankt Berlinguers Formel schon daran, dass die KPI alles andere als eine monolithische, volldisziplinierte Partei ist. Sie ist daher auch nicht in der Lage, einen in Theorie und Praxis einheitlichen Standpunkt gültig zu vertreten.
Giorgio Amendola, ein führendes Mitglied der Parteidirektion, schreibt zwar in einem unlängst erschienenen Buch: “Über 20 Jahre sind seit dem sowjetischen Startschuss zur Entstalinisierung vergangen. Die Hoffnungen auf eine Erneuerung des Sowjetsystems sind aufs tiefste enttäuscht worden. Aus diesem Grunde sind die westlichen Kommunisten gezwungen gewesen, auf die Duplizierung des Sowjetmodells zu verzichten.” Aber fast gleichzeitig erklärte der Alt-Präsident der Partei, Luigi Longo, in einem Interview, die Partei müsse ihren “leninistischen Charakter” beibehalten, denn “was wäre die Weltlage, wenn die grosse, wirtschaftliche, politische, militärische und ideologische Kraft der Sowjetunion fehlte”?
Erst die Zukunft wird zeigen, welche Gruppierungen innerhalb der KPI die Oberhand gewinnen werden — die leninistischen oder die als “Eurokommunisten” verbrämten sozialdemokratischen Elemente.
L.K.
[Aufbau Apr. 7, 1978. p.7]