Wenn der Osten mit dem Westen disputiert
Internationale Konferenz des Aspen-Instituts
Die Geschichtsdeutung der Moskauer Dogmatiker dient unverkennbar dem Zweck, die faktische Existenz der Sowjetmacht zu rechtfertigen. Damit erfüllt die sowjetische Interpretierung historischer Ereignisse eine wichtige Funktion — sie ist dazu berufen, das bolschewistische Regime zu legitimieren. Die Oktoberrevolution «wird als ein Produkt historischer Gesetzmässigkeit dargestellt. Als ketzerisch gilt die Ansicht, die Bolschewisten hätten in den Wirren des Jahres 1917 ihren Sieg über die Menschewisten (Sozialdemokraten) und die anarchistisch orientierten Sozialrevolutionäre nur dem Umstand zu verdanken, dass sie besser organisiert waren als ihre Gegner. Die Anerkennung dieser These würde die Sowjetführer ihres Anspruches berauben, als Vollstrecker einer historischen Mission zu erscheinen.
Schon aus diesem Grund ist ein sinnvoller ideologischer Dialog zwischen Ost und West unmöglich. Trotzdem wunde unlängst ein derartiger Versuch unternommen. Das geschah im Rahmen einer internationalen Konferenz, die unter den Auspizien der West-Berliner Filiale des amerikanischen Aspen-Forschungsinstituts stattfand. Die Tagung war dem Thema “60 Jahre Sowjetmacht” gewidmet. An der Konferenz nahmen nicht nur Historiker der freien Weit, sondern auch ihre Kollegen aus der UdSSR und den osteuropäischen Ländern teil.
Die Vertreter der Sowjetunion hielten sich dabei, wie zu erwarten war, an das offizielle Dogma des Kremls. Darauf waren die westlichen Delegierten vorbereitet. Doch die Thematik selbst war dazu angetan, den engen Rahmen bisheriger Debatten zwischen Ost und West zu sprengen.
Auf der Tagesordnung stand z.B. die Frage über die verhältnismässig geringe Entwicklungshilfe seitens der UdSSR (1976 betrug die Gesamtsumme der von den Ländern des Sowjetblocks geleisteten Entwicklungshilfe nur 1,327 Milliarden Dollar, während die der Dritten Welt gewährte westliche Hilfe 14 Milliarden Dollar erreichte). Die Sowjetunion lehnt es meist grundsätzlich ab, die Verantwortung für die “Folgen des Kolonialismus” zu tragen. Damit hängt es auch zusammen, dass Moskau dem Nord-Süd-Dialog skeptisch gegenübersteht.
Ausser ideologischen Faktoren, die Moskaus Entwicklungshilfe beschränken, sind auch andere Momente zu berücksichtigen. Der Sowjetunion fehlt es an Traditionen auf dem Gebiete gegenseitig vorteilhafter Wirtschaftskooperation. Einer der US-Delegierten sagte auf der Konferenz: “Meiner Ansicht nach entspricht die Haltung der UdSSR zu Fragen der Weltwirtschaft in keiner Weise dem heutigen Geist. Es geht auch nicht darum, wer von uns im Recht ist, sondern um die Frage, ob wir alle — West und Ost, Nord und Süd — den immer grösser werdenden Gefahren entgegentreten können. Heute handelt es sich um das Überleben aller.”
Einer der Vertreter der osteuropäischen Länder gab zu, dass globale Wirtschaftsprobleme für die sozialistischen Länder neu seien und es häufig an der nötigen Erfahrung fehle. Die sowjetischen Konferenzteilnehmer konterten die Argumente der westlichen Vertreter mit dem Hinweis auf eine “bescheidene” Äusserung Breschnews, der zufolge “die Sowjetunion allein nicht imstande ist, die Probleme der Menschheit zu lösen.”
Im Mittelpunkt der Konferenz stand die historische Bewertung der Oktoberrevolution. Dem sowjetischen Dogma zufolge waren und sind sämtliche Erfolge der UdSSR durch den Sieg der proletarischen Revolution bedingt. Die Industrialisierung des Landes, der Sieg im Zweiten Weltkrieg über Hitler-Deutschland und die zurzeit bestehende militärische Parität mit dem Westen wurden — nach sowjetischer Auffassung — ausschliesslich durch den “Grossen Oktober” ermöglicht.
In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass ein britischer Historiker in Anwesenheit der Sowjets und ihrer osteuropäischen Kollegen erklärte, dass der in der UdSSR seit 1917 erzielte Fortschritt nicht wegen, sondern trotz der Revolution erzielt wurde. Die Massenhinrichtungen und Deportationen, die allgemeine Demoralisierung, der Ruin des russischen Bauerntums und die Schaffung des “eisernen Vorhangs” hätten der Modernisierungsprozess aufgehalten, der schon vor 1917 seinen Anfang genommen hat.
Unerwarteterweise verliessen die Sowjetdelegierten während der Rede des Engländers nicht den Konferenzsaal und verhielten sich durchaus gesittet. Ihre Gegenargumente wurden in verhältnismässig ruhigem Ton vorgebracht. Das massvolle Benehmen der sowjetischen Delegierten während der Diskussion ist ein Novum und ist als solches begrüssenswert. L.K.
[Aufbau May 19, 1978. p.5]