Ein neues Stadium des sowjetisch-chinesischen Konflikts
Es ist durchaus möglich, dass das Jahr 1978 für die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung von nicht minderer Bedeutung sein wird als das Jahr 1960. Chruschtschow fasste damals bekanntlich den folgenschweren Beschluss, die sowjetischen Experten aus China abzuberufen und jegliche militärische und wirtschaftliche Hilfe für Peking einzustellen. Mitte Juli des laufenden Jahres ist es nun faktisch zum Bruch zwischen China und Vietnam gekommen. Die Pekinger Regierung hat ihre Wirtschaftshilfe für Hanoi eingestellt. Gleichzeitig verliessen die chinesischen Instrukteure Vietnam.
Der äussere Anlass für die radikale Verschlechterung der chinesisch-vietnamesischen Beziehungen war die Massen flucht der sogenannten “Hoa”, der in Vietnam lebenden Chinesen. Rund 140,000 dieser “Hoa-Leute” flohen aus Vietnam nach China.
Die Massenauswanderung der Hoa-Chinesen war die unmittelbare Folge der von Hanoi durchgeführten Wirtschaftsmassnahmen gegen die in Südvietnam schon Jahrzehnte lang lebenden Kaufleute. Nach der Nationalisierung ihres Besitztums droht ihnen und ihren Familien eine Zwangsumsiedlung in den Dschungel — zur Erschliessung der sog. Entwicklungegebiete.
Die Verteidigung der Interessen der “Hoa” durch Peking wirkte nur als eine Art Katalysator von Vorgangen, die sich schon seit längerer Zeit angedeutet hatten. In Vietnam prallten die Interessen der beiden kommunistischen Erzfeinde — der Sowjetunion und Chinas — zusammen. Der totale Sieg Vietnams im Frühjahr 1975 entsprach keineswegs den eigentlichen Wünschen Pekings. Die chinesische Führung befürchtete — und zwar mit Recht — eine dominierende sowjetische Präsenz in Vietnam. Diese Bedenken drückte der chinesische Vizepremier Teng Hsiao-ping in allegorischer Form aus: “Was nützte es, den (amerikanischen) Tiger aus dem Hause zu verjagen, wenn hierbei der (sowjetische) Wolf durch die Hintertür Eingang fände?”
Nach dem Sieg von 1975 orientierte sich Hanoi in zunehmendem Mass auf den Kreml. Zudem bestanden und bestehen zwischen Hanoi und Peking territoriale Konflikte. Vietnam fordert die Rückgabe der im Sudchinesischcn Meer gelegenen Paracel-Inseln, die Peking während des Vietnam-Krieges besetzt hatte (die Inseln waren damals ein Streitobjekt zwischen Südvietnam und China). Peking hat bisher sämtliche Démarchen der Regierung in Hanoi ignoriert.
i Die Unterstützung Phnom Penhs durch Peking im vietnamesisch-kambodschanischen Grenzkrieg hat die Beziehungen zwischen China und Vietnam noch weiter verschärft. Moskau hat die antichinesischen Stimmungen Hanois auszunutzen verstanden. Zurzeit errichten die Sowjets Militärstützpunkte in Danang, Haiphong und in der Cam-Ranh-Bucht.
In Anbetracht des kalten Krieges mit China und des heissen Krieges mit Kambodscha offenbart Hanoi neuerdings eine gewisse Flexibilität den Vereinigten Staaten gegenüber. Vietnam ist gegenwärtig an einer Herstellung der diplomatischen Beziehungen zu Washington — ohne jegliche Vorbedingungen — interessiert. Hanoi erhebt nunmehr keine Reparationsansprüche.
Die Umkreisung Chinas durch die UdSSR hat auch Peking dazu veranlasst, Washington gegenüber versöhnlichere Töne anzuschlagen. Die chinesische Führung ist zurzeit geneigt, eine Kompromisslösung in der Taiwanfrage anzustreben, wodurch eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik China erleichtert werden könnte. Teng Hsiao-ping hat Anfang Juli in einem Gespräch mit dem Abgeordneten des Repräsentantenhauses Lester Wolf angedeutet, dass Peking zu direkten Gesprächen mit Taiwan bereit sei. Bald danach wies ein Sprecher der Regierung in Taipei den Vorschlag der chinesischen Kommunisten brüsk zurück.
Nach der Weigerung Taiwans, Verhandlungen mit Peking aufzunehmen, veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur der Volksrepublik China eine Reihe von Artikeln, die die Politik Taipeis aufs schärfste angriffen. Von besonderem Interesse ist hierbei derjenige Teil der Ausführungen, der der eventuellen künftigen Annäherung zwischen Taiwan und der UdSSR gewidmet ist.
In einem der Pekinger Artikel wird u.a. folgendes behauptet: “Auf Anweisung von Chiang Ching-kuo (dem Präsidenten Nationalchinas) betrachtet die Taiwaner Presse des öfteren die Möglichkeit einer politisch-militärischen Zusammenarbeit mit Moskau. Taipei bezeichnet eine derartige Variante als flexible Diplomatie, die der Herstellung von freundschaftlichen Kontakten mit den Feinden unserer Feinde dient.”
Diese Pekinger Vorwürfe sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Es lässt sich nicht ausschliessen, dass Moskau — im Falle einer Annullierung des amerikanisch-taiwanesischen Bündnisses — danach trachten wird, engere Kontakte mit Taiwan aufzunehmen. Der Kreml ist an einer militärisch-strategischen Zusammenarbeit mit Nationalchina zweifellos interessiert. Dadurch würde Moskau der Erreichung seines Endzieles — der totalen Einkreisung des “Reiches der Mitte” — näherkommen. Mehrere Geheimreisen des sowjetischen “Chefagenten” Viktor Louis nach Taipei zeugen von Moskaus Interesse an Taipei.
Die Unterzeichnung des chinesisch-japanischen Friedens- und Freundschaftsvertrages hat natürlich den Kreml zutiefst beunruhigt. Japan hat sich schliesslich mit der von den Chinesen geforderten (faktisch gegen die Sowjetunion gerichteten) Antihegemonialklausel einverstanden erklärt. Der Abschluss des chinesisch-japanischen Vertrages ist ein beachtlicher Erfolg der Pekinger Diplomatie und gleichzeitig eine Schlappe für Moskau.
Die jüngsten Ereignisse in Asien komplizieren die bisherigen Wechselbeziehungen des “Dreiecks” Washington-Moskau-Peking. Tokio, Hanoi und Taipei üben gegenwärtig einen standig wachsenden Einfluss auf die “Dreieck” Diplomaatie der Grossmächte aus.
L.K.
[Aufbau Sep. 1, 1978. p.2]