Antisowjetische Massenkundgebungen im Baltikum

Bisher haben sich die Ereignisse in Polen am stärksten auf die baltischen Sowjetrepubliken (Estland, Lettland, Litauen) ausgewirkt. Besonders grosse Ausmasse haben die antisowjetischen (und unverhüllt antirussischen) Protestkundgebungen in Estland, der kleinsten der drei baltischen Republiken, angenommen. Zum Vorkämpfer des estnischen Widerstandes wurde der 46jährige Biologe Mart Niklus, der “baltische Sacharow”, wie man ihn in der Heimat oft nennt. Niklus unterhielt mit dem Nobelfriedenspreisträger Andrej Sacharow — bis zu dessen Verbannung nach Gorki — enge Kontakte.
Estnische Studenten und Schüler unterstützten Niklus in seinem Kampf um nationale Unabhängigkeit. Als sich die Sowjets der “Ansteckungsgefahr der polnischen Krankheit” bewusst wurden, verhafteten sie Niklus und Jurij Kukk, einen Professor der Universität Tartu (Dorpat). Am 8. Januar 1981 wurden beide Bürgerrechtler und Kämpfer für nationale Unabhängigkeit zu Freiheitsstrafen verurteilt: Mart Niklus zu 10 Jahren Zwangsarbeit (mit nachfolgender fünfjähriger Verbannung). Das Urteil im Prozess gegen Jurij Kukk lautete auf zwei Jahre Gefängnis. Nach seiner “Freilassung” soll sich Kukk — auf Empfehlung des sowjetischen Gerichts — in einer psychiatrischen “Heilanstalt” behandeln lassen. Gegenwärtig lässt es sich kaum sagen, wessen Strafe schwerer ist. Eine “psychiatrische Heilanstalt” kann in der UdSSR zu lebenslänglicher Haft werden.
Niklus hat wegen “Verleumdung der Sowjetmacht” schon 10 Jahre in diversen Arbeitslagern abgebüsst (1958-1968). Im Gefängnis und im Lager wurde er häufig misshandelt. Seine Gesundheit ist völlig zerrüttet, und seine Talliner Freunde zweifeln daran, dass er imstande sein wird, die ihm bevorstehende 10jährige Lagerfrist einzuhalten.
1968-1980 organisierte er — zusammen mit den Dissidenten Litauens und Lettlands — eine baltische Widerstandsbewegung. Im August 1979, dem 40jährigen Jahrestage des Abschlusses des sowjetisch-nazistischen Paktes, unter-zeichneten 45 Litauer, Esten und Letten einen Aufruf an die Weltöffentlichkeit. In diesem Appell wird die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit erhoben. Unter anderem wird darauf hingewiesen, dass Sowjetrussland i.J. 1920 mit den drei baltischen Republiken Friedensverträge unterzeichnet hat, in denen Moskau hoch und heilig gelobte, keinerlei Ansprüche auf das Territorium der drei Länder zu erheben. Im Aufruf der 45 baltischen Dissidenten wird ferner hervorgehoben, dass der Westen die Münchner Abmachung von 1938 heute als null und nichtig betrachtet, während die rechtlichen Auswirkungen des sowjetisch-nazistischen Paktes bis auf den heutigen Tag anerkannt werden.
Kurz nach der Verhaftung von Niklus und Kukk kam es in Tallin zu Protestkundgebungen, an denen Tausende junge Esten teilnahmen. Die Demonstranten trugen Transparente mit der Aufschrift “Russen, raus aus Estland”.
Die erste grosse Massendemonstration fand am 22. September 1980 statt. Teilnehmer der Kundgebung waren meist Jugendliche und Vertreter der estnischen Intelligenz. Anlass der Protestaktion war das Verbot eines Konzertes der Pop-Gruppe “Propeller”. Die Zensur hatte in den Liedertexten “nationalistische Motive” ausfindig gemacht. über 1.000 junge Esten versammelten sich im Talliner Stadion. Durch brutale Gewalt-massnahmen gelang es der Polizei, die Kundgebung zu sprengen. Viele Schüler der oberen Klassen wurden festgenommen und bald darauf aus ihren Lehranstalten ausgeschlossen.
Laut Meldungen sowjetischer Dissidenten nahmen am 3. Oktober vergangenen Jahres gegen 5.000 Personen an einer grossen Protestkundgebung im Zentrum Tallins teil. So etwas hatte es in der Sowjetunion noch nie gegeben. “Wir fordern ein freies Estland”, “Russen raus aus Estland” hiess es da auf den Spruchbändern der jugendlichen Demonstranten.
Als sich die Massen dem Talliner Regierungsgebäude näherten, trat die Polizei in Aktion. Viele Menschen wurden geschlagen und misshandelt. 150 Personen wurden festgenommen (die meisten wurden später freigelassen; sechs der Verhafteten werden aber demnächst vor Gericht gestellt werden).
Die Lage war derart gespannt, dass der Chef des KGB (des sowjetischen Sicherheitsdienstes), Jurij Andropow, aus Moskau nach Tallin eilte, um “Ordnung zu schaffen”. Es wird berichtet, dass zurzeit in Estland eine Säuberungsaktion im Gange ist, die auch die örtlichen Sicherheitsorgane erfasst hat.
Am 20 Oktober 1980 wurden die bekannten estnischen Dissidentetn Veljo Kalele, Tut Madison und Viktor Niitso verhaftet. Zum ersten Mal untersteht das estnische Bildungsministerium jetzt einer Russin (der Moskauerin Elsa Gretschkina). Die Genossin reorganisiert gegenwärtig das gesamte Schulwesen. Eine der diesbezüglichen Massnahmen besteht darin, sämtliche Fächer in russischer Sprache zu lehren. Im Moskauer administrativen Jargon wird dieser Prozess als “Erziehung der Jugend in sowjetischem Geiste” bezeichnet.
In Lettland und Litauen ist die Lage vorläufig noch nicht derart gespannt, obwohl es in beiden Republiken zahlreiche Untergrundpublikationen gibt. 1972 kam es in Litauen zu Zusammen-stössen zwischen Jugendlichen und Polizisten. Panzertruppen der Sowjetarmee waren einsatzbereit.
Unter den litauischen Dissidentenblättern sind die der katholischen Kirche von besonderer Bedeutung. Der katholische Widerstand der Litauer ist für Moskau ein überaus ernst zu nehmender Faktor. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Polen könnte es auch im benachbarten Litauen zu antisowjetischen Aktionen kommen. Moskau ist sich dieser Gefahr bewusst.
L.K.[Aufbau, 1981.03.27, p. 5]

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