Antikommunistische Schützenhilfe für Moskau

Das Geheimnis Russlands ist schon längst gelüftet. Die Kremlpolitik ist bei weitem nicht mehr so rätselhaft, seitdem sich eine Viertelmillion ehemaliger Sowjetbürger in den letzten 10 Jahren in Israel, in den Vereinigten Staaten und Kanada niedergelassen hat. Die intellektuelle Vorhut dieser jüngsten Sowjetemigrantcn kann bestätigen, dass der Kommunismus Moskauer Prägung schon vor langem seine Anziehungskraft eingebüsst hat. Kurz nach Stalins Tod sprach der italienische Kommunistenführer zu Recht vom “Degenerationsprozess” des sowjetischen Regimes. Der 26. Kongress der KPdSU, der vor einigen Monaten in Moskau stattfand, hat aufs neue der Welt vor Augen geführt, dass die alten Männer des sowjetischen Politbüros keinerlei Дnderungen zu dulden bereit sind (der Bestand des Politbüros blieb völlig unverändert).
64 Jahre nach der bolschewistischen Oktoberrevolution wird die Sowjetmacht durch panische Angst vor jeglichen neuen Tendenzen gekennzeichnet. Die Unterdrückung sämtlicher Reformbewegungen im eigenen Land und in Osteuropa zeugt vom erstarrten, verknöcherten Konservatismus der sowjetischen Führung.
Die Sowjets sind sich dessen bewusst, dass sie den Entwicklungsländern ausser Waffenlieferungen nichts bieten können. Die Kremlpropaganda bemüht sich schon jahrelang, den bürokratischen Konservatismus des sogenannten “real existierenden Sozialismus” zu tarnen und der Welt einen revolutionären Enthusiasmus vorzugaukeln. In der UdSSR und in Osteuropa (bei einer Gesamtbevölkerung von fast 350 Millionen Menschen) weiss man genau, wie es heutzutage um den “revolutionären Geist bestellt ist.
Unlängst ist den Sowjets ganz unerwartete Schützenhilfe seitens mancher extremer Antikommunisten Washingtons zuteil geworden.
Infolge des Unvermögens, die kausalen Zusammenhänge der sozialen Gärung in Nikaragua. El Salvador und anderen Ländern Zentralamerikas zu erkennen, hat sich Washington bisher damit begnügt, die antikommunistischen Kräfte dieser Region zu unterstützen.
Einen besonders krassen Fall bildete Nikaragua. Bekanntlich übte die Familie Somoza fast 50 Jahre lang die absolute Macht im Land aus. Die nikaraguanischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts — General Anastasio Somoza Garcia (1928-1956), sein älterer Sohn Luis Somoza Debayle (1956-1963) und sein jüngerer Sprössling General Anastasio Somoza Debayle (1967-1979) — ignorierten die Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung Not litt. Kurz vor seiner Flucht aus dem Land gab der letzte Somoza-Diktator in einem Gespräch mit einem CBS-Korrespondenten offen und zynisch zu, dass ihm unzählige Landgüter, Industrieunternehmungen, Hotels u.a.m. gehörten. Diese sozialen Kontraste und politischen Konflikte wurden selbstverständlich von Havanna und Moskau — durch Waffenlieferungen und Propaganda — ausgenutzt. Präsident Carter versuchte in seinem letzten Amtsjahr, die gemässigten Elemente der Sandinisten-Junta zu stärken und dem neuen Nikaragua Wirtschaftshilfe zu leisten.
Die Situation in El Salvador ist zurzeit nicht weniger gespannt, als die Lage in Nikaragua kurz vor dem Fall des Somoza-Regimes war. Der von Jimmy Carter eingesetzte ehemalige US-Botschafter in San Salvador White kennt sich in der politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes vorzüglich aus. Ihm war es von Anbeginn klar, dass die Macht Jose Napoleon Duartes, des christdemokratischen Premiers El Salvadors, durch linke und rechte Extremisten in steigendem Mass untergraben wird. White zufolge liege der einzige Ausweg in der konsequenten Durchführung von Wirtschaftsreformen.
Der sicherste Weg einer Lösung der sozialen und politischen Konflikte in El Salvador und anderen mittelamerikanischen Staaten ist die Hebung des Wirtschaftsniveaus der Bevölkerung. Je weniger Hungerleidende es im Land geben wird, desto geringer werden die Aussichten der von Castro unterstützten Linksextremisten sein. Die 54 US-Militärberater sind wohl kaum imstande, die Situation in El Salvador wesentlich zu ändern. Die Vereinigten Staaten erreichen in diesem zentralamerikanischen Land gerade das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigen. Die Kremlleitung hat durch zahlreiche unbedachte Handlungen Washingtons erneut die Möglichkeit, die konservative Bürokratisierung der UdSSR zu verhüllen und die Illusion zu erwecken, völlig uneigennützig die revolutionären Prozesse in fernen Ländern zu unterstützen.

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       Prof. Richard Pipes ist einer der bekanntesten US-Sowjetologen. In der neuen Reagan-Administration gehört er dem Nationalen Sicherheitsrat an. Somit sind die Ansichten, die er zum Ausdruck bringt, nicht seine Privatsache, sondern eine Art öffentlicher Angelegenheit. Kürzlich behauptete Prof. Pipes in einem Presseinterview, dass ein Krieg mit der Sowjetunion unvermeidlich sein werde, falls diese nicht bereit sei, den Kommunismus aufzugeben. Im gleichen Interview kritisierte der Harvard-Professor den Bundesaussenminister Genscher. Pipes äusserte Zweifel daran, ob Hans-Dietrich Genscher imstande sei, sowjetischen Erpressungsversuchen standzuhalten. Natürlich sah sich Aussenminister Alexander Haig genötigt, einzulenken und Genscher gegenüber sein völliges Vertrauen auszusprechen.
Es handelt sich nicht nur darum, dass derartige Erklärungen amerikanischer Sowjetologen in unserem heutigen Atomzeitalter besonders gefährlich sind. Von Bedeutung ist auch der unbeabsichtigte, jedoch faktisch unbestreitbare Nebeneffekt dieser philosophischen Eskapaden. Die Kremlherren frohlockten sicherlich über das obenerwähnte Pipes-Interview. Solche unverantwortlichen Bemerkungen hochgestellter Persönlichkeiten des amerikanischen öffentlichen Lebens verleihen den Sowjets in den Augen der Dritten Welt und sogar Westeuropas eine gewisse Respektabilität. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die sowjetischen Massenmedien Richard Pipes als Kriegshetzer par excelleim bezeichnen werden. Extremer Antikommunismus kann zuweilen für Moskau höchst begrüssenswert sein. L.K.

[Aufbau Jul. 24, 1981. p.5]

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