Polnischer Krisenherd — kein Ansteckungsgefahr für Sowjetbürger

Bei dem im Juli d.J abgehaltenen Kongress der kommunistischen Partei Polens wurden — in geheimen Abstimmungen — sämtliche Führungsgremien der Partei — vom Zentralkomitee bis zum Politbüro — neu besetzt. Die alte korrupte Parteielite, die das Land an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, ist im neuen Zentralkomitee — mit nur wenigen Ausnahmen — nicht mehr vertreten. Unter 200 Vollmitgliedern des neuen Zentralkomitees sitzen jetzt 80 Fabrikarbeiter und 28 Privatbauern; 20 Proz. der ZK-Mitglieder sind Repräsentanten der Freien Gewerkschaften (“Solidarität”). Der wiedergewählte Parteichef Stanislaw Kania steht angesichts dieses Demokratisierungsprozesses innerhalb der Polnischen KP vor einer gigantischen, kaum lösbaren Aufgabe. Obwohl die Gefahr einer direkten sowjetischen Invasion — jedenfalls temporär — gebannt scheint, sieht die Warschauer Parteiführung sich gezwungen, stets die mögliche Reaktion des Kremls auf die Entwicklung in Polen in Rechnung zu stellen.
Der “innere Reinigungsprozess” der polnischen Kommunisten kann zu einem nationalen Vertrauensfaktor nur dann werden, wenn es der Partei — in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der “Solidaritäts”-Bewegung — gelingt, ein konkretes Programm zur Sanierung der polnischen Wirtschaft in die Wege zu leiten. Die erwiesene Unfähigkeit und Sturheit der Partei- und Staatsführung während der letzten 30 Jahre hat Polen in eine katastrophale Lage gebracht, die sich nur durch einschneidende Wirtschaftsreformen zum Besseren wenden kann. Zentralpunkt der Reform könnte die vielfach umstrittene Arbeiterselbstverwaltung und Mitbestimmung werden. Aber die Zeit drängt, schon deswegen wird Warschau dringend ein Stillhalteabkommen mit westlichen Banken brauchen. Darüber ist zwar Übereinkunft erzielt worden, aber direkte Regierungskredite bleiben aus. Bei Zahlungsunfähigkeit wäre es Warschau nicht mehr möglich, Waren im Wert von vielen Milliarden Dollar einzuführen. Die Versorgung der Bevölkerung würde dann ein völliges Fiasko erleiden.
Der Parteikongress brachte zwar eine strukturelle demokratische Erneuerung, wurde jedoch nicht zu einem radikalen Wendepunkt in der Nachkriegsperiode des Landes. Eine solche Wende wäre nur durch engste Zusammenarbeit mit der “Solidarität” zwecks Schaffung einer das ganze Land umfassenden ArbeiterselbstVerwaltung möglich. Die von Partei und Regierung geplanten drastischen Steigerungen der Lebensmittelpreise stossen auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung. Die breiten Massen sind nicht gewillt, den Gürtel noch enger zu schnallen und weiterhin stundenlang Schlange zu stehen. Solange dem Volke die diesbezüglichen Wirtschaftsopfer durch Partei — und Regierungsdirektiven aufgebürdet werden, kann die Konfliktsituation nicht überwunden werden.
Die westlichen Massenmedien berichten verständlicherweise aufs genaueste über die dramatischen Ereignisse in Polen. Die Situation des sowjetischen Konsumenten wird hingegen in der Presse bedeutend seltener beleuchtet, wobei darauf hinzuweisen wäre, dass sich die Versorgungssituation in den letzten 3-4 Jahren auch in der UdSSR katastrophal verschlechtert hat. So berichten jüngst im Westen eingetroffene Emigranten, dass beispielsweise Kartoffeln sich in Moskau und anderen Sowjetstädten nicht einmal auf dem Kolchos-Markt, geschweige denn in den staatlichen Lebensmittel handlungen, auftreiben lassen. Fleisch ist permanente Mangelware und nur dem erhältlich, der “Beziehungen” hat. Das Gleiche gilt für andere Konsumartikel des täglichen Gebrauchs.
Zum Unterschied von Polen stösst die Brotversorgung in der UdSSR auf keine besonderen Schwierigkeiten (Moskau hat die Möglichkeit, Millionen Tonnen Getreide auf dem Weltmarkt zu kaufen). Auch Wodka ist stets zu haben.
Die Wirtschaftsnot hat in der Bevölkerung zu einem Zynismus geführt, der die unvermeidliche Tatsache hinnimmt, dass nur die Partei- und Regierungselite, sowie Spekulanten und Leute mit “Beziehungen” imstande sind, den Versorgungsschwierigkeiten zu entgehen. Während in Polen die Armee den Lebensmittelspekulanten auf den Leib rückt, hat man sich in der Sowjetunion an die Misstände längst gewöhnt. Man murrt und spottet, wagt es aber nicht, zu rebellieren.
Zweifellos sind manche der Gründe für eine derartige Passivität in der Geschichte Russlands verankert. 30 Jahre Stalinscher Diktatur wirken sich jedenfalls auf die ältere Generation psychologisch aus. Zu Stalins Zeiten konnte ein unvorsichtiges Wort zu Haft und langfristiger Freiheitsstrafe fähren; dem heutigen Sowjetbürger, soweit er nicht öffentlich protestiert, drohen solche Gefahren nicht. Das gilt schon als Fortschritt.
Zum Unterschied von Polen ist es in der UdSSR nicht zu einem Kampfbündnis zwischen Dissidenten und Arbeitern gekommen. Die wenigen Regimekritiker, die sich für die Schaffung freier Gewerkschaften in der UdSSR einsetzten, wurden verhaftet und meist in Irrenhäuser gesperrt. Nicht einmal Nobelpreisträger Andrej Sacharow, der wegen seines heldenmütigen Kampfes für Wahrung der Menschenrechte nach Gorki verbannt wurde, hat sich für eine Kontaktaufnahme mit den sowjetischen Arbeitern eingesetzt. Die Schwäche der sowjetischen Dissidentenbewegung lag eben in ihrer einseitigen intellektuellen Orientierung.
Westliche Korrespondenten wie auch Sowjetemigranten berichten, dass in Moskau, Leningrad und anderen Sowjetstädten der “Mann auf der Strasse” die Ereignisse in Polen zynisch-kühl beurteilt. “Die Polen sticht wohl der Hafer. Die haben’s ja besser als wir. Und dennoch sind sie unzufrieden.” Solche Äusserungen lassen sich in der UdSSR — beim Schlangestehen, in Bierstuben und dgl. — häufig vernehmen. Eine Ausnahme bilden die baltischen Republiken (Litauen, Lettland und Estland), wo die Arbeiter ihre Bewunderung für die Errungenschaften der polnischen Gewerkschaften kaum verbergen. Aber fehlt es im Sowjet-Baltikum an Menschen, die den Mut hätten, dem polnischen Beispiel zu folgen. L.K.

[Aufbau. Aug. 21, 1981. p.6.]

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