Tatjana Losanskys Todesbereitschaft führte zur Auswanderung
Vor mehr als sechs Jahren wanderte der sowjetjüdische Atomphysiker Eduard Losansky nach den Vereinigten Staaten aus. In Moskau hatte Losansky Zutritt gehabt zu strengsten Staatsgeheimnissen. Er betrieb Forschungsarbeit am Atomenergie-Institut Kurtschatow und war ausserdem als Dozent an der Malinowsky-Militärakademie tätig. In ähnlichen Fällen kommt Emigration überhaupt nicht in Frage. Losansky war aber ein Sonderfall. Eduards Gattin Tatjana ist die Tochter eines hochgestellten Söwjetgenerals. General Jerschow, Tatjanas Vater, war bis vor kurzem für nicht mehr und nicht minder als den Luftschutz der sowjetischen Hauptstadt zuständig. In der sowjetischen Militärhierachie handelt es sich hierbei um eines der wichtigsten Ämter.
Als 1976 die Propagandakampagne gegen den weltbekannten sowjetischen Atomphysiker und Menschenrechtler Andrej Sacharow ihren Höhepunkt zu erreichen schien, nahm Eduard Losansky — in Anwesenheit der Hörer der Militärakademie — kein Blatt vor den Mund. Er erklärte ihnen die weltweite Bedeutung der Ideen Sacharows. Natürlich erfuhren Losanskys Vorgesetzte von dessen “ketzerischen” Ausführungen. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen, schlugen fehl. Ihm wurde erwidert, dass er wohl nicht recht bei Trost sei, wenn er sich erkühnt habe, Sacharows Namen “an einem solchen Platz” (d.h. der Militärakademie) überhaupt in Erwähnung gebracht zu haben. Eduard Losansky wurde fristlos entlassen.
Seinem Schwiegervater war die Angelegenheit höchst peinlich. Der General suchte einen Ausweg aus der unangenehmen Situation und schlug Eduard, um ihn loszuwerden, vor, sich von Tatjana scheiden zu lassen. Jerschow würde dafür Sorge tragen, dass Eduard ein Ausreisevisum so rasch wie möglich gewährt würde. Später sollten auch Tatjana und ihre Tochter ins Ausland folgen können. Auf diese Weise liessen sich sämtliche Probleme lösen. Eduard war von Anfang an misstrauisch und glaubte nicht den Versprechungen des Generals. Tatjana war aber von der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit der väterlichen Worte zutiefst überzeugt.
Die Scheidungsformalitäten, die gewöhnlich mehrere Wochen in Anspruch nehmen, wurden im Nu erledigt. Auch auf seine Auswanderungspapiere brauchte Eduard nicht lange zu warten. Er ging nach Amerika und fand dort — als erstklassiger Fachmann — Anstellung an der Universität Rochester.
Nach dem Abflug des unerwünschten Schwiegersohns erklärte allerdings General Jerschow seiner Tochter, dass von ihrer Auswanderung nicht die Rede sein könne.
Doch der General hatte sich verrechnet. Sechs Jahre lang dauerte Tatjanas und Eduards Kampf um die Zusammenführung. Nach Tatjanas 33tägigem Hungerstreik kapitulierte General Jerschow. Seine Tochter war dem Tode nahe. Bisher hatte sie sich geweigert, Eduard die Telefonnummer ihres Vaters mitzuteilen. Endlich erfuhr Eduard Losansky die Rufnummer seines ehemaligen Schwiegervaters. Er rief ihn an und sagte ihm: “Begeben Sie sich so schnell wie möglich zu Ihrer Tochter. Ihr Leben hängt an einem Faden. Sie wollen sie doch sicher noch sehen”. General Jerschow, der anfangs Tatjanas Hungerstreik nicht allzu ernst genommen hatte, überzeugte sich von der tödlichen Gefahr, die seiner Tochter drohte. Er wandte sich an den KGB (den sowjetischen Sicherheitsdienst) und die Moskauer Pass- und Visabehörde und erklärte, dass er seinen bisherigen väterlichen Einspruch gegen Tatjanas Auswanderung zurücknehme. Der 60jährige General sah sich genötigt, in den Ruhestand zu treten. Der Kreml traut einem Mann, dessen Tochter in den USA lebt, den Luftschutz Moskaus nicht an. Ende Dezember vergangenen Jahres wurde Tatjana ein Ausreisevisum gewährt.
Seit einigen Wochen sind Tatjana und ihre 11jährige Tochter mit ihrem Mann, dem Vater ihres Kindes, aufs neue vereinigt. Eduard, der von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in letzter Zeit Abstand nehmen musste, um all seine Energie zahlreichen Protestaktionen in New York, Paris und anderen Städten zu widmen, bemüht sich gegenwärtig um Wiederaufnahme seiner Forschungsarbeit. Auch Tatjana, die Chemikerin ist, hofft, demnächst in ihrem Beruf tätig zu sein.
In einem Interview mit einem Vertreter des Pariser russischsprachigen Emigrantenblattes “La Pensee Russe” gaben Eduard und Tatjana durchaus wissenswerte Einzelheiten ihres sechsjährigen Kampfes um Familienzusammenführung bekannt. Tatjana erzählte dem Reporter, dass sie mehrmals in zweiwöchigen Hungerstreik getreten sei. Doch auf den KGB hätten derartige Protestaktionen keinen Eindruck gemacht. Beamte des Sicherheitsdienstes, die das Gebäude bewachten, wo sich Tatjanas Wohnung befand, sagten gelangweilt: “Soll sie nur ruhig hungern. Uns regt das nicht im geringsten auf. Wir haben hier Dienst und rauchen unsere Zigaretten”. Als aber Tatjana Losansky in einen unbefristeten Hungerstreik trat und bereit war, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nahm der KGB die Sache ernst.
“Andrej Sacharow und seine Gattin Jelena Bonner haben durch ihren Hungerstreik im letzten Jahr mir und anderen getrennten Eheleuten den Weg gewiesen,” sagte Tatjana Losansky.
Eduard Losansky betonte, er habe sich in seinem Kampf um Familienzusammenführung nicht nur für seine eigene Sache eingesetzt, sondern sei auch für andere Opfer der sowjetischen Bürokratenwillkür eingetreten. Von grösster Bedeutung ist der Umstand, dass Losansky vor mehreren Jahren das in Paris befindliche Sacharow-Komitee gegründet hat, dem zurzeit 45 Nobelpreisträger und mehrere US-Senatoren angehören. Losansky meinte in seinem Gespräch mit dem Zeitungskorrespondenten: “Ich glaube, dass es uns gelungen ist, im Sacharow-Komitee linke und rechte, liberal und konservativ orientierte Intellektuelle zu vereinigen. Unter den weltberühmten Akademikern, die unserem Ausschuss angehören, gibt es sogar Sozialisten. Gegenwärtig ist die Finanzlage des Sacharow-Komitees derart gut, dass wir beabsichtigen, Sacharow-Stipendien und Freiheitsprämien einzuführen”.
Eduard Losansky berichtete ferner, dass am 21. Mai 1983, dem Geburtsdatum Andrej Sacharows, in der ganzen freien Welt zahlreiche Konzerte berühmter Musiker geplant seien.
L.K.
[Aufbau Feb. 4, 1983. p.3]